Mitteilungen der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Neue Folge Stadt und Hof Jahrgang 1 (2012)


Die Bedeutung von Raumtheorien für die methodischen Überlegungen



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5. Die Bedeutung von Raumtheorien für die methodischen Überlegungen

Um die realisierten Bauvorhaben des Kurfürsten und des Adels angemessen beurteilen zu können, wird eine theoretische Abhandlung über Raumaneignungsprozesse und Raumbesetzungen den oben genannten Untersuchungen vorangestellt. Im Anschluss soll eine Darstellung des städtischen und kurfürstlichen Bauwesens mit ihren ausführenden Organen folgen. Diese theoretischen und historischen Darstellungen sind entscheidend für die Bewertung der Untersuchungsergebnisse, da Bau- und Platzanalysen auf der Grundlage von realisierten Bauprojekten erst einzuordnen sind, wenn die Gegenfrage nach nicht durchgeführten Bauprojekten gestellt wurde. Im Vordergrund der Arbeit steht somit der Kontext, aus dem Bauvorhaben entwickelt und realisiert wurden, sowie die ihnen innewohnende Kommunikabilität und Wirkung auf den im Stadtraum sich bewegenden Rezipienten.

Dem Raum als sinnstiftende kultur- und sozialgeschichtliche Kategorie kommt bei Arbeiten zur Stadtgeschichte eine besondere Bedeutung zu. Zumindest für die Vormoderne stellt die Stadtmauer eine Abgrenzung von der Stadt zum Land dar, deren Durchlässigkeit streng reglementiert und kontrolliert wurde. Diese Abschließung nach außen begrenzte das Raumangebot innerhalb der Stadt und erzeugte so eine hohe Attraktivität ihres Besitzes, worin ihr Konfliktpotential begründet lag.

Es muss jedoch bedacht werden, dass der Raum nicht nur als eine rein physische Komponente zu verstehen ist. Insbesondere von der Soziologie wurde in den letzten Jahren der Raum als wesentlich komplexeres Konstrukt herausgestellt und von einer Vorstellung des Raumes als Container Abstand genommen. Die in ihm existenten Objekte und sozialen Organisationen sind nicht von dem physischen Raum unabhängig zu betrachten, sondern befinden sich in einem relationalen Verhältnis zu ihm. Es entsteht somit eine Wechselwirkung und ein dynamisches Gebilde, in dem das soziale Handeln Räume generiert und sie damit veränderbar macht34.

Die Bedeutungszuweisung an bestimmte Räume findet jedoch nicht immer wieder aufs Neue statt. Gerade der Architektur, als einer raumprägenden Struktur mit ihrer festen und auf Dauerhaftigkeit angelegten Materialität, ist eine gewisse Konstanz eingeschrieben. Allein durch ihre Undurchdringlichkeit kann ein einmal geschaffenes Raumgefüge Bewegungen vorprägen und ein bestimmtes Verhalten nahelegen. Diese räumlichen Strukturen sind zwar auch Veränderungen unterworfen und können durchbrochen werden, da stadtbildverändernde Maßnahmen jedoch eine lange Planungs- und Ausführungszeit benötigen und nur durch großen administrativen Aufwand betrieben werden können, haben sie eine relativ lange Haltbarkeit und sind damit in ihrer Wirkung umso größer. Zudem übt Architektur immer auch unabhängig von ihrer Funktionszuweisung allein durch ihre äußere Erscheinung eine unmittelbare und allgemeingültige Wirkung auf den Betrachter aus, die bereits durch das Verhältnis ihrer Größe zu den menschlichen Proportionen vorgegeben ist. Der bebaute und umbaute Raum wird so zu einem Kommunikationsmedium, das in vielschichtiger Weise mit dem Betrachter in einen Dialog tritt35. Dem theoretischen Ansatz von Pierre Bourdieu folgend, stellt allein die Möglichkeit über stadtbildverändernde Maßnahmen zu verfügen ein entscheidendes Kapital dar, nicht nur um soziale Ungleichheiten und damit Machtbeziehungen nach unten zu verfestigen und aufrechtzuhalten, sondern auch um die Standeskonkurrenz zu übertrumpfen36. Soziale Ungleichheit wird somit durch das Wechselverhältnis zwischen der Aneignung des physischen Stadtraumes und der Positionierung im sozial-gesellschaftlichen Raum reproduziert37.

Das theoretisch aufgerissene Spektrum der Raumanalysen und der Prozess ihrer Aneignung lassen sich an den ausgewählten Untersuchungsorten in der Residenzstadt Mainz in vielen Facetten aufzeigen. So deuten sich die Bestrebungen des Kurfürsten und des Adels an, das Bild der Stadt durch Bauvorhaben zu prägen, zugleich aber auch die Schwierigkeiten und Grenzen, die sich durch den Status der Stadt als historisch gewachsene geistliche Residenzstadt ergaben.

Mit dem vorgestellten Dissertationsprojekt werde ich neue Perspektiven für die kunsthistorische Bewertung des Mainzer Bauwesens und der kurfürstlichen Baupolitik in der Frühen Neuzeit eröffnen, wobei dem Raum als zentrale semiotisch aufgeladene Kategorie entscheidende Bedeutung beigemessen werden soll.
Christian Katschmanowski, Mainz


Kolloquien, Vorträge, Ausstellungen, Jubiläen


Siehe auf unserer Internetseite die Rubrik „News“


http://adw-goe.de/forschung/forschungsprojekte-akademienprogramm/residenzstaedte/news/




Tagungs- und Ausstellungsberichte



Religion Macht Politik
Hofgeistlichkeit im Europa der Frühen Neuzeit 1500-1800
Wolfenbüttel, 4. bis 7. Oktober 2011


Seit Oktober 2009 werden an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (HAB) und am Interdisziplinären Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück (IKFN) im Rahmen eines für vier Jahre vom Land Niedersachsen geförderten Kooperationsprojektes die politische Rolle der protestantischen Hofprediger im frühneuzeitlichen Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel durch drei Fallstudien erforscht und wichtige Quellen des Themenfeldes digital erschlossen (siehe MRK 21,1 [2011] S. 41]. Zur Mitte der Projektlaufzeit lud man nun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Forschungskontexten zu einem internationalen Arbeitsgespräch in die Herzog August Bibliothek ein, um Zwischenresultate der regional angelegten eigenen Fallstudien zur Diskussion zu stellen und interkonfessionelle wie interterritoriale Vergleiche anzustellen.

Eingeleitet wurde das Arbeitsgespräch mit einem öffentlichen Abendvortrag, in dem Luise Schorn-Schütte (Frankfurt a. M.) die protestantischen Hofprediger zunächst sozial als Angehörige der städtisch-bürgerlichen Bildungseliten auswies, deren Rekrutierungsideal deutlich antiklientelistische Züge getragen und vor allem Bildung und eine integere Lebensweise in den Vordergrund gestellt habe. Damit hätte auch ein verbreitetes Amts- und Selbstverständnis korrespondiert, das von den Hofpredigern eine weitgehend unabhängige Stellung bei Hofe einforderte, aus der heraus sie wachend und mahnend politisches und soziales Geschehen begleiteten. Hier sah Schorn-Schütte eine Differenz zur Amtsethik katholischer Hofgeistlichkeit, in welcher Patronage eine weit weniger kritische Bewertung erfahren habe. Gleichwohl machte die Referentin auch Parallelen aus: Sowohl protestantische als auch katholische Hofgeistliche hätten den Anspruch erhoben, Hof- und Adelskritik formulieren zu dürfen; und in beiden konfessionellen Richtungen sei das Recht auf politische Beratung eingefordert worden.

Nachdem Ulrike Gleixner (Wolfenbüttel) und Siegrid Westphal (Osnabrück) zum Einstieg in das Arbeitsgespräch die Genese des gemeinsamen Projektes und dessen zentrale Frage kurz erläutert hatten, wurde das Themenfeld in den folgenden Tagen unter fünf Schwerpunktsetzungen behandelt. Zunächst standen die Beziehungen der Hofgeistlichen zu den „Fürsten, den Fürstinnen und zum Hof“ als Gesamtgefüge im Blickpunkt. Douglas H. Shantz (Calgary) betrachtete anhand der reformierten Grafenhöfe Johann Philipps II. von Isenburg-Offenbach und Casimirs von Sayn-Wittgenstein-Berleburg die Beziehungen zwischen den pietistisch orientierten Theologen Conrad Bröske und Ludwig Christoph Schefer zu den regierenden Fürsten. Trotz Unterschieden in der Vorgehensweise der beiden Prediger hätten beide einen erheblichen Einfluß insbesondere auf die Religionspolitik in den untersuchten Kleinterritorien ausgeübt, der auf einem sehr engen persönlichen Austausch, auf Vertrauen und spiritueller Nähe beruht habe. Beide Theologen seien eher Berater als bloße Mahner ihrer Fürsten gewesen. Mit dem Herzogtum Württemberg wandte sich Wolfgang Schöllkopf (Bad Urach) dann einem weitaus größeren Herrschaftsgebiet zu und steckte dabei einen komplexeren sozialen Handlungsrahmen ab, in dem sich die Hofprediger bewegten. Neben Fürsten, Fürstinnen und Mätressen stellten auch das Kollegium der Konsistorialräte sowie die Landstände wichtige Bezugspunkte für das politische Handeln der Hofprediger dar. Am Neubau einer gleichermaßen von barocken Stilelementen und pietistischen Bildprogrammen geprägten evangelischen Schloßkirche wurde dann exemplarisch der Einfluß der Hofprediger Samuel Urlsperger und Eberhard Friedrich Hiemer in dieser Rahmenkonstellation verdeutlicht. Dynastische Konflikte innerhalb ernestinischer Höfe des 17. und 18. Jahrhunderts dienten Stefanie Walther (Bremen) als Ausgangspunkte, den Einfluß von Hofpredigern auf die Beziehungen innerhalb fürstlicher Familien auszuloten. In den Auseinandersetzungen um die 1713 geschlossene, standesungleiche Ehe des Herzogs Anton Ulrich von Sachsen-Meiningen erwies sich der Hofprediger Adam Krebs als Vermittler zwischen den Konfliktparteien. Selbst zum Streitgegenstand wurde der französischsprachige und calvinistische Hofprediger der Prinzessin Marie-Charlotte de la Trémoille, die 1662 eine Ehe mit Herzog Bernhard von Sachsen-Jena schloß und gegen den Widerstand des sich zum Luthertum bekennenden ernestinischen Gesamthauses auf den Beistand ihres geistlichen Vertrauten beharrte. Diese beiden Fälle unterstrichen noch einmal, daß die Handlungsmöglichkeiten der Hofprediger in hohem Maß von ihrer persönlichen Bindung an Fürsten oder/und Fürstinnen abhingen.

Einen zweiten Akzent setzte das Arbeitsgespräch auf „Netzwerk und Koalition“. Hier betonte der verlesene Vortrag von Alexander Schunka (Gotha) am Beispiel des reformierten Theologen Daniel Ernst Jablonski, daß ein Hofprediger um 1700 nicht nur als Vermittler und Vertrauter am Hof und innerhalb der fürstlichen Familien agieren, sondern auch wichtiger Knotenpunkt in europäischen Netzwerkbeziehungen sein konnte. Jablonskis Aktionsradius erstreckte sich von Ostmitteleuropa bis nach Großbritannien. Dabei verknüpfte er an ihn delegierte Aufgaben fürstlicher Diplomatie mit eigenen Zielen; insbesondere irenische Vorstellungen und die internationale Vereinigung des Protestantismus waren ihm ein persönliches Anliegen. Der Stellung und den Aufgaben der orthodoxen Beichtväter russischer Zaren, Kaiser und Kaiserinnen des 17. und 18. Jahrhunderts ging Aleksandr Lavrov (Paris) nach. Innerhalb des kirchlichen Machtgefüges erwiesen sich die Beichtväter häufig als Gegenspieler anderer geistlicher Würdenträger. Strikt getrennt waren am Hof das Amt des Predigers und jenes des Beichtvaters, neben die in einzelnen Fällen noch charismatische Vertreter des Mönchtums treten konnten. Der unterschiedlichen Rollenzuweisung entsprach auch eine Differenz der sozialen Herkunft und Vernetzung. In der petrinischen Zeit wuchsen den Hofgeistlichen neue Aufgaben zu: Sie begleiteten Vertreter des Zarenhauses auf Auslandsreisen und halfen umgekehrt den von außerhalb an den russischen Hof Kommenden bei der Integration, nicht zuletzt führten sie diese an die orthodoxe Religionspraxis heran. Sie wirkten damit als Vermittler in einem intensivierten europäischen Kulturtransfer. In einem vergleichenden Ansatz untersuchte Martin Jung (Osnabrück) die Karriereprofile der lutherischen Hofprediger in Kursachsen und Württemberg. Anders als in der Zeit der Reformation, die von hoher Mobilität gekennzeichnet gewesen sei, ließe sich im 17. und 18. Jahrhundert eine auffällige territoriale Fixierung der Werdegänge erkennen. Die zweifellos in beiden Untersuchungsräumen bei den Hofpredigern zu beobachtende höhere akademische Bildung führte demzufolge nach der Reformationsphase nicht zu einer komplexen überregionalen Verflechtung. Über die Hofprediger seien überdies eher die akademische Theologie und Kirchenleitung verknüpft worden, weniger Kirche und Theologie mit der Politik.

Eine dritte Gruppe von Vorträgen untersuchte die Rolle der Hofgeistlichkeit in „Konflikt und Streitkultur“. Hier griff Robert von Friedeburg (Rotterdam) die alte, von der Forschung ganz unterschiedlich beantwortete Frage auf, ob den lutherischen Theologen eher Obrigkeitshörigkeit oder hingegen eine obrigkeitskritische Haltung zu bescheinigen sei. Anhand der Debatte über das Widerstandsrecht stellte der Referent die These auf, daß es vor 1620 zwar punktuell obrigkeitskritische Ansätze gegeben habe, doch erst mit den Verheerungserfahrungen des Dreißigjährigen Krieges eine Radikalisierung einsetzte, die bei Autoren wie Joachim Lütkemann in kompromißlosen Angriffen auf die Fürsten gipfelte. Daß lutherische Hofprediger sich keineswegs auf die Rolle des Wächters und Mahners am Rande der Hofgesellschaft beschränkten, sondern auch als Akteure in säkularpolitischen Konflikten auftraten, erläuterte Matthias Meinhardt (Wolfenbüttel) am Beispiel des Hofpredigers und Kirchenrats Basilius Sattler, der sich im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert sowohl an den Konflikten der Herzöge von Braunschweig-Wolfenbüttel mit der Stadt Braunschweig als auch an der Opposition gegen die Regierung des Statthalters Streithorst beteiligte. Dabei ließ sich zeigen, daß der Theologe mit bestimmten Hofparteien und Interessengruppen im Land kooperierte, um seine politischen Ziele zu realisieren. Auf die gelehrte Streitkultur des 18. Jahrhunderts zielte der Vortrag von Frank Grunert (Halle a. d. S.), der Inhalte, Formen und politische Effekte der konfessionellen Auseinandersetzungen des Predigers am dänischen Königshof, Hector Gottfried Masius, betrachtete und dadurch die politischen und intellektuellen Positionen des Hofgeistlichen freilegte, dem insbesondere an der Wahrung der lutherischen Hegemonie in Dänemark gelegen war. Am Beispiel des Theologen Eberhard Finen und des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel untersuchte Alexandra Faust (Osnabrück) das Problem der Fürstenkonversionen um 1700, das den Hofprediger in ein Dilemma zwischen Fürsten- oder Konfessionstreue brachte. Erstaunlicherweise kam es jedoch in diesem Fall nicht zum Bruch zwischen Fürst und Hofgeistlichem: trotz geübter Kritik am Herzog und Spannungen am Hof erwies sich die persönliche Bindung als stark genug, um die konfessionelle Divergenz auszuhalten.

Die vierte Sektion versuchte, die Voraussetzungen und die konkreten Formen von „Fürstenberatung und Herrschaftsbeteiligung“ der Hofgeistlichkeit noch weiter auszuleuchten. Zunächst behandelte hier Johannes Wischmeyer (Mainz) in einem komparativen Ansatz die erste Generation von reformierten Hofpredigern in der Kurpfalz und in Brandenburg-Preußen, die politisch recht zurückhaltend auftraten und ihre Hof- und Herrscherkritik eher moderat vorgebracht hätten. Sodann sprach Christian Deuper (Osnabrück) über den lutherischen Hofprediger Joachim Lütkemann und dessen Beziehungen zu Herzog August d. J. von Braunschweig-Wolfenbüttel. Hier wurde sichtbar, daß der Hofgeistliche vom Fürsten in durchaus beachtlicher Weise materiell privilegiert und persönlich unterstützt wurde, jedoch, insbesondere in seiner „Regentenpredigt“, deutliche Obrigkeitskritik übte. Anschließend wandte man sich den jesuitischen Hofbeichtvätern des französischen Königshofes zu, Ronnie Po-Chia Hsia (Pennsylvania) verglich diese mit ihren Amtsbrüdern in Bayern, Michael Müller (Mainz) mit jenen am kurfürstlichen Hof in Mainz. In allen drei behandelten Konfessionen war die Verflochtenheit von Hofgeistlichkeit und Herrschaftsausübung zu beobachten. Insbesondere in protestantischen Territorien, wo die Position des Hofpredigers oft mit der Kirchenleitung verknüpft wurde oder diese Geistlichen zumindest Sitz und Stimme im Konsistorium besaßen, läßt sich eine Herrschaftsbeteiligung institutionalisiert fassen. Doch gab es daneben einen informellen, daher angesichts der Quellenlage oft nur ungenau zu bemessenden Gestaltungsspielraum, der sich auch bei jesuitischen Hofbeichtvätern nachweisen läßt und sich etwa in Beratungen, Gutachten oder der Einbindung in diplomatische Beziehungen zeigen konnte. Die Vorträge dieser Sektion unterstrichen noch einmal, daß der Grad der politischen Einflußnahme sich weniger nach der Konfession und der konkreten Kirchenverfassung, sondern in erster Linie nach individuellen Dispositionen und der Qualität der persönlichen Beziehungen zwischen Fürst und Geistlichem richtete. Besonders nachdrücklich plädierte Hsia dafür, die sich verändernde Beschaffenheit des Hofes und die Stellung der Hofgeistlichen in diesem Gesamtgefüge in den Fokus zu rücken, weil sich daran der Wandel von Macht und Religion in Europa verfolgen ließe.

Die letzte Gruppe von Vorträgen widmete sich den Feldern „Sprache, Medien und Selbstverständnis“. Von besonderem Gewicht ist hier freilich die Predigtanalyse, die Philip Hahn (Frankfurt a. M.) in das Zentrum seiner Ausführungen stellte. Anhand der Auswertung der gedruckten Predigten des homiletisch einflußreichen kursächsischen Hofpredigers Matthias Hoë von Hoënegg skizzierte er Wege, auf denen Herkunft, Gestalt und Weiterentwicklung der politischen Semantik in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts erschlossen werden können. Wie tief die systematische Untersuchung von Briefen in den Intimbereich höfischen Lebens und politischer Entscheidungsprozesse gelangen läßt, demonstrierte Gerrit Deutschländer (Hamburg). Über die dem Vortrag zugrunde gelegte Korrespondenz des humanistisch orientierten Theologen und Präzeptors Georg Helt mit den Fürstenbrüdern Joachim und Georg von Anhalt sowie deren Mutter Margarethe erschlossen sich Zugänge ebenso zur höfischen Erziehung wie zur religiösen Unterweisung und kirchenpolitischen Beratung in der Reformationszeit, die eine erhebliche Wirkung auf die konfessionelle Ausrichtung des Territoriums entfalten sollten. Das vor allem über das Medium der Predigten formulierte Amts- und Selbstverständnis lutherischer Hofprediger thematisierte Wolfgang Sommer (Neuendettelsau). Über Schlüsselpredigten der Dresdner Hofprediger Polycarp Leyser d. Ä., Martin Geier und Walter Marperger arbeitete der Referent eine lange Tradition obrigkeitskritischer Haltungen und Selbstdeutungen heraus, die sich jedoch als überaus wandelbar im Detail erwiesen. Vor allem aus der Zweiregimentenlehre hätten die ersten Generationen lutherischer Hofprediger ihr Recht und die Pflicht zur Herrscherkritik abgeleitet und diese auch nicht selten in sehr offener Form vorgebracht. In einem gewissen Kontrast zu den Thesen Friedeburgs meinte Sommer jedoch erkennen zu können, daß das zum Teil recht schroffe Auftreten der Geistlichen in der Frühzeit des Luthertums im Laufe der Zeit weicheren Formen der Kritikerrolle gewichen sei, weil die Zweiregimentenlehre als Legitimationsquelle an Bedeutung verloren habe und pietistische Frömmigkeit und aufklärerisches Gedankengut zunehmend an Einfluß gewonnen hätten.

Die von einer pointierten Zusammenfassung der Tagung durch Irene Dingel (Mainz) eingeleitete Schlußdiskussion hob insbesondere auf Chancen und Probleme einer angemessenen Typologisierung angesichts der durch die Tagungsbeiträge aufgezeigten unterschiedlichen Ausprägungen von Amtsverständnissen und Amtsausübungen innerhalb der frühneuzeitlichen Hofgeistlichkeit ab. Auch wurde methodologisch nach der Generalisierbarkeit der zumeist aus biographischen Studien gewonnenen Erkenntnisse gefragt, die trotz der Notwendigkeit zur regionalen, zeitlichen und konfessionellen Differenzierung das übergreifend Gültige herausstellt und somit allgemeinere Zugänge zum Verständnis frühneuzeitlicher Herrschaftspraxis und Hofkultur eröffnet.

Das Arbeitsgespräch gelangte durch den Konfessionen und Regionen vergleichenden Ansatz zu einem überaus facettenreichen Bild der politischen Handlungsmöglichkeiten von Hofgeistlichen. Nicht nur Mahnung und Kritik, sondern auch Beratung und Politikgestaltung konnten zu ihrem Aktionsraum gehören. In der Analyse von Medien, Instrumenten und Strategien sowie Leit- und Selbstbildern der an den Höfen tätigen Theologen wurden Standesspezifika ebenso deutlich wie Parallelen zu anderen Funktionseliten. Wer höfisch geprägte Politikprozesse der Frühen Neuzeit aufhellen möchte, wird nach den Resultaten der Wolfenbütteler Tagung gut daran tun, die Hofgeistlichen als wichtige Akteure der frühneuzeitlichen Politik in seine Betrachtungen einzubeziehen.

Eine Dokumentation des Arbeitsgespräches wird vorbereitet und voraussichtlich in den „Wolfenbütteler Forschungen“ erscheinen.

Konferenzübersicht


Öffentlicher Abendvortrag

Schorn-Schütte, Luise (Frankfurt a. M.): Umstrittene Theologen. Die Rolle der Hofprediger zwischen Herrscherkritik und Seelsorge im Europa der Frühen Neuzeit.
I. Fürst, Fürstin und Hof
Gleixner, Ulrike (Wolfenbüttel), Westphal, Siegrid (Osnabrück): Begrüßung und Einführung; Shantz, Douglas H. (Calgary): Pietist Court Preachers and the Wetterau Counts: Court Piety and Policy in Offenbach und Berleburg; Schöllkopf, Wolfgang (Bad Urach): Zwischen Fürst, Fürstin und Mätresse – Hofprediger im barocken Württemberg; Walther, Stefanie (Bremen): Hofprediger an ernestinischen Fürstenhöfen und ihre Rolle in dynastischen Konflikten.
II. Netzwerk und Koalition
Schunka, Alexander (Gotha) (verlesen): Netzwerkbildung im europäischen Kontext – Das Beispiel Daniel Ernst Jablonski (1660-1741); Lavrov, Aleksandr (Paris): Die Beichtväter der russischen Zaren und Kaiserinnen, 1613-1796; Jung, Martin (Osnabrück): Karriereprofile evangelischer Hofprediger im Vergleich.
III. Konflikt und Streitkultur
Friedeburg, Robert von (Rotterdam): Die lutherische Orthodoxie und die Debatte um das Widerstandsrecht; Meinhardt, Matthias (Wolfenbüttel): Fürstentreue, Gruppeninteresse und Eigensinn – Der Hofprediger Basilius Sattler in politischen Konflikten im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel; Grunert, Frank (Halle a. d. S.): Konfessionelle Konkurrenz und politisches Kalkül. Die Kontroversen des dänischen Hofpredigers Hector Gottfried Masius; Faust, Alexandra (Osnabrück): Karriere und Karrierebrüche eines Hofpredigers zu Beginn des 18. Jahrhunderts – Eberhard Finen in Braunschweig-Wolfenbüttel 1698-1726.
IV. Fürstenberatung und Herrschaftsbeteiligung
Wischmeyer, Johannes (Mainz): Selbstverständnis und theologischer Horizont der ersten Generation reformierter Hofprediger in der Kurpfalz und in Brandenburg-Preußen; Deuper, Christian (Osnabrück): Herzog August der Jüngere (1579–1666) und sein Generalissimus Joachim Lütkemann (1608–1655). Skizzen ihrer Beziehung; Po-chia Hsia, Ronnie (Pennsylvania): Jesuitische Hofprediger in Frankreich und Bayern im 17. Jahrhundert. Ein Vergleich; Müller, Michael (Mainz): Die politische Rolle jesuitischer Fürstenbeichtväter im 17. und 18. Jahrhundert – Frankreich und Kurmainz im Vergleich.
V. Sprache, Medien und Selbstverständnis
Hahn, Philip (Frankfurt a. M.): Die politische Sprache des kursächsischen Oberhofpredigers Matthias Hoë von Hoënegg im Kontext; Deutschländer, Gerrit (Hamburg): Hofgeistlichkeit, Fürstenerziehung und Briefkultur; Sommer, Wolfgang (Neuendettelsau): Zum Selbst- und Amtsverständnis lutherischer Hofprediger.
Dingel, Irene (Mainz): Zusammenfassender Kommentar.
Matthias Meinhardt, Wolfenbüttel


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