Mitteilungen der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Neue Folge Stadt und Hof Jahrgang 1 (2012)


Habilitations- und Dissertationsprojekte



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Habilitations- und Dissertationsprojekte



Dissertationsprojekt
Das Spannungsfeld der Randgruppenpolitik in mecklenburgischen Residenzstädten
Historische Semantiken politischer Leitbegriffe im Umgang mit Ausgegrenzten




Einführung und Zusammenfassung

Der Umgang mit gesellschaftlichen Randgruppen bildet ein Politikum, dem es weder an aktueller Brisanz noch an der Verwurzelung in der Geschichte fehlt. Themen, die bewegen und zudem zeitlich überdauernd das gesellschaftliche Miteinander prägen, regen zu aktiver Forschungstätigkeit an. So auch in diesem Fall. Die gewonnenen Erkenntnisse erstrecken sich neben der Theoriebildung auf die zeitliche sowie die räumliche Ausdehnung und bilden das Ergebnis interdisziplinärer Studien.

Neu hingegen ist die Perspektive, welche die Verfasserin für die Sozialgeschichte der Randgruppenpolitik zu eröffnen sucht: Im konzeptionellen Mittelpunkt der Arbeit steht die Hof- und die Residenzstadtforschung mit ihrer inhaltlichen Neuausrichtung, welche verstärkt das integrative und konkurrierende Beziehungsgefüge von Stadt und Hof in den Blick nimmt. So gelte es nicht mehr als grundlegendes Forschungsziel, die Geschichte zweier getrennter Räume zu schreiben, nämlich der Stadt einerseits und des Hofes andererseits. Während die Hof- und Stadtforschung das tragende Grundkonzept des vorliegenden Dissertationsprojektes darstellt, soll der theoretische Rahmen inhaltlich durch das Forschungsparadigma der Inklusion und Exklusion ergänzt werden18. Letzteres liefert mit seinen Grundannahmen das theoretische Fundament, das es für eine Analyse des obrigkeitlichen Agierens im Rahmen der frühmodernen Randgruppenpolitik braucht.

Den Untersuchungsraum bilden die drei Mecklenburgischen Städte Schwerin, Ludwigslust und Neustrelitz, die z.T. langfristig (Schwerin, Neustrelitz), z.T. vorübergehend (Ludwigslust) zum Residenzort der Mecklenburgisch-Schwerinschen bzw. -Strelitzschen Herzöge wurden. Den Zeitraum der Studie bildet das 18. Jahrhundert, wobei Ausblicke in das 19. Jahrhundert angestrebt werden. Methodisch steht die argumentationsgeschichtliche Analyse ausgewählter Leitbegriffe im Vordergrund. Ein Ergebnis der Studie besteht somit in einem konkreten Begriffskatalog, der politische Normen mit ihren zeitgenössischen Semantiken im obrigkeitlichen Umgang mit Ausgegrenzten fasst. Zu erwarten ist ein wesentlicher Beitrag zur Erweiterung des Verständnishorizontes der politischen Kultur in den Residenzstädten der Frühen Neuzeit.



Theoretischer Rahmen und Fragestellung

Zur Hof- und Residenzstadtforschung: Das Dissertationsvorhaben widmet sich vertiefend einem Aspekt der herrschaftlichen Repräsentation im Sozialraum Stadt, welcher einen exemplarischen Beleg für die Verklammerung zwischen höfischer und städtischer Gesellschaft sowie ihrer Dependenzen darstellt. Konkreter Betrachtungsgegenstand ist der obrigkeitliche Umgang mit dem heterogenen Rand„gruppen“-Milieu in ausgewählten Residenzstädten.

Will man sich der Stadt-Hof-Beziehung thematisch nähern und das gesellschaftliche Zentrum in Residenzstädten (mit seiner permanenten Nähe zu Hof und Herrn) erfassen, ist dies nicht ohne einen Blick auf die Peripherie der frühmodernen Gesellschaft möglich. Die Integrations- bzw. Desintegrationsbemühungen um das Randgruppenmilieu bieten tiefe Einblicke in das Gegen- und Miteinander von Stadtherrn und städtischer Gesellschaft. Das kritische Moment der Regulierung einer Randgruppenproblematik evozierte eine Krisensituation, die im Tätigwerden des Stadtherrn auf der Suche nach dauerhaften Lösungskonzepten kulminierte.

Von besonderem Interesse ist der Zusammenhang zwischen der städtischen Randgruppenpolitik durch die herzogliche Regierung und dem Potential, das dieser stadtpolitische Bereich dem Herzog bot. Während einerseits eine durchgreifende Politik zur Etablierung und Sicherung eines beständigen Sozialgefüges als Sinnbild einer stabilen Herrschaft galt, eröffnete der mildtätige Umgang mit Armen und Ausgegrenzten dem Herrscher die Möglichkeit der Demonstration seiner christlichen Herrschertugenden: Landesväterliche Liebe, Milde und Güte. Während auf diese Weise eine Gruppe am Rande der Gesellschaft Unterstützung fand und so von der Randgruppenpolitik profitierte, schöpfte der Landesherr das Potential des Raumes Stadt als eine Repräsentationsfläche seiner Herrschaft aus. Das Milieu der ehrlichen Armen, Waisen und Witwen wurde zu einer dankbaren Projektionsfläche der herrschaftlichen Frömmigkeit. Mit diesem doppelten Zweck der Randgruppenpolitik, dem der frühmoderne Herrscher verpflichtet war, öffnet sich ein Spannungsfeld, zwischen dessen Polen derselbe zu wirken hatte: zum einen die Inklusion der unerwünscht Randständigen (Alte und Waisen, Kranke, ehrliche Arme) und zum anderen die Exklusion der bewusst Ausgegrenzten (Zigeuner, Vagabunden, fremde und unehrliche Arme), welche die wirtschaftliche Prosperität der Stadt und die Unterstützung der wahrhaft Bedürftigen gefährdeten.

Zur Inklusions- und Exklusionsforschung: Die Frage nach dem Agieren des Herzogs zwischen den Polen der Randgruppenpolitik eröffnet die Möglichkeit zur fruchtbaren Synthese zweier Forschungsfelder, nämlich der Stadt- und Hofforschung sowie des Inklusions- und Exklusions-Paradigmas. Letzteres stellt die inhaltliche Füllmenge dar, mit welcher der Theorierahmen der Stadt- und Hofforschung ergänzt und in Beziehung zur frühneuzeitlichen Randgruppenthematik gesetzt werden kann. Die Inklusions- und Exklusionsforschung bildet das Programm des Trierer Forschungsbereichs 600 „Fremdheit und Armut“ und liefert mit seinen wegweisenden Untersuchungen einen wesentlichen Beitrag zur Theoriebildung sowie zur Systematisierung bestehender Erkenntnisse19.

Mit dem Beginn der Frühen Neuzeit hatte sich in den Eliten ein Arbeitsethos etabliert, das in der Umkehr alle armen Menschen mit der Frage nach Arbeitsscheu konfrontierte20. Aus dem daraus folgenden zweckrationalen Anspruch, Angehörige des Randgruppenmilieus in Submilieus von würdigen und unwürdigen Personen zu unterscheiden, entstand die Notwendigkeit, verwaltungsinterne Mechanismen zu ihrer Charakterisierung zu entwickeln. Unabhängig davon, ob es sich um die Inklusion oder Exklusion von Personen handelte, wurde stets Rekurs auf die Triebfeder des herrschaftlichen Tätigwerdens genommen: den Schutz der wahrhaft Bedürftigen, der durch die christliche Barmherzigkeit des Landesherrn motiviert war.

Das Paradigma der Inklusion und Exklusion gibt einen Blickwinkel in der Wahrnehmung von Armut und Fremdheit vor, der von den grundlegenden Zielen der Randgruppenpolitik geprägt ist: Während die würdigen Armen in bestehende Muster inkludiert werden sollten, galt es die unwürdigen Armen nach zeitgenössischem Verständnis zu exkludieren. Tatsächlich mündete die Ambivalenz der praktischen Randgruppenpolitik zwischen Fürsorge und Repression in einer „exkludierenden Inklusion“ des gesamten Armenmilieus. Die Kenntlichmachung von Armut (durch Bettelzeichen, Fegen des Marktplatzes durch Arme etc.) aus zweckrationalen Gründen, die mit der Unterstützung der würdigen Armen gerechtfertigt wurde, förderte so die Formung des Armenmilieus zu einer abgrenzbaren Gruppe. Die neu konzipierte Armenpflege und Randgruppenpolitik wurde zum Wegbereiter faktischer Stigmatisierung21.

So ist danach zu fragen, inwieweit der Landesherr mit seiner Regierung in den formulierten Normenmodellen ein Bewusstsein für die Notwendigkeit zeigte, zwischen den Polen der Randgruppenpolitik (zwischen Inklusion und Exklusion) trotz der daraus resultierenden Probleme (exkludierende Inklusion mit ihren Folgen) zu handeln. Inwiefern fand die Notwendigkeit zur Kategorisierung ihren Niederschlag im politischen Handeln? Ebenso scheint die Frage im Rahmen der Untersuchung zielführend, inwieweit potentielle Folgen der Stigmatisierungsprozesse (z.B. Stehlen aus Not) im Rahmen der Randgruppenpolitik berücksichtigt wurden. Auch scheint die Frage relevant, auf welche Weise Konflikte um mangelnde Ressourcen seitens der Regierung gelöst wurden. Tatsächlich lässt sich in vielen städtischen Beispielen nachweisen, dass nach Ausschöpfung der Mittel Bettelscheine ausgestellt wurden. Während das Bitten um Almosen ohne einen obrigkeitlich ausgestellten Pass unter Androhung von Strafe verboten und in verschiedenen Bettelkritiken thematisiert wurde, schien es legitime Praxis im Rahmen der frühneuzeitlichen Randgruppen- und Armenpolitik gewesen zu sein. Interessant scheint hier die Frage, ob die Kriminalisierung der Armen in der Wahrnehmung der städtischen Bevölkerung auch auf diejenigen überging, die sich der eigentlich verbotenen, aber überlebenssichernden Strategien bedienten (Fehletikettierung). Konnte die städtische Bevölkerung also, die durch eine Flut von Verordnungen über das Bedrohungsszenario informiert wurde, zwischen den nicht wahrhaft Bedürftigen und denjenigen unterscheiden, die keinen Zugang mehr zu Versorgungseinrichtungen gefunden hatten? Insbesondere muss berücksichtigt werden, dass das Spenden von Almosen ebenso hart bestraft wurde, wie das Betteln selbst. Was hier ein Indiz für das Fehlschlagen der normativen Regelungen sein kann, da die Bevölkerung scheinbar noch immer regelmäßig außerhalb der legitimierten Bettlerumzüge spendete, lässt ob der steten inhaltlichen Wiederholung in Verordnungen, allgemeinen Dienstanweisungen an Armeninstitute sowie anderweitigen Stellungnahmen von der herzoglichen Regierung tiefgreifende Schlüsse zu.

Zum Leitfaden des Dissertationsvorhabens wird die Frage nach den Argumenten, mit denen der Landesherr die Exklusion der einen und die Inklusion der anderen rechtfertigte. Wie bewegte er sich im Spannungsfeld der Randgruppenpolitik unter Berücksichtigung seiner herrschaftsrepräsentativen Interessen, die zum Teil antagonistisch angelegt waren? Inwieweit lassen sich Differenzen zur begrifflichen Auslegung seitens der Ausgegrenzten nachweisen?


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