Der Index Librorum Civitatum (Verzeichnis der Stadtbücher des Mittelalters und der Frühen Neuzeit) als Instrument der historischen Grundlagenforschung
Die Erforschung von Residenzstädten kann im Idealfall auf die Überlieferungsbildung von drei Herrschaftsträgern und ihre Archive, nämlich auf Hof/Residenz, Stadt und Kirche zurückgreifen. Je nach Ausprägung der lokalen Herrschaftsverhältnisse, Verwaltungsstrukturen und Sozialbeziehungen kann allein das Fehlen oder Vorhandensein bestimmter Quellengattungen Aussagen zum Grad städtischer Selbstverwaltung oder zu den Verhältnissen zwischen Hof, Stadt und Kirche erlauben. Für (Selbst-)Verwaltungsbefugnisse, die nicht bei den Vertreten der Bürgerschaft lagen, wird es beispielweise keine entsprechenden Quellenzeugnisse städtischer Provenienz geben, während umgekehrt allein das Vorhandensein eines „Stadtbuches“ ein Mindestmaß an Selbstverwaltung und Herrschaftsrechten des Stadtrates voraussetzt. Aber auch Brief-, Rechnungs- und Privilegienbücher können ein beredtes Zeugnis über Kommunikationsinhalte und Interaktionsebenen zwischen Stadtherrn und Stadtbewohnern ablegen. Aus der Sicht der Quellen städtischer Provenienz kann das im Folgenden vorzustellende „Stadtbuchprojekt“ zumindest einen der oben genannten Schriftgutproduzenten durch sein Nachweissystem abdecken. Um Missverständnissen vorzubeugen sei hier darauf verwiesen, dass mit „städtischer Provenienz“ nicht der Aufbewahrungsort, etwa ein Stadt- oder Ratsarchiv gemeint ist, sondern der städtische Rat und die von Ihm oder durch seine bestellten Vertreter verfassten Schriftzeugnisse und zwar jene in Buchform – die Stadtbücher.
Forschungsgegenstand Stadtbücher
Als Stadtbücher (libri civitatis) werden im Folgenden vorerst ganz allgemein buchförmige Archivalien bezeichnet, die seit dem 13. Jahrhundert in städtischen Kanzleien zu Verwaltungszwecken geführt wurden. Je nach Verwendungsdauer und Aufzeichnungsumfang entstanden starke Bände oder schmale Hefte. Als Beschreibstoffe begegnen uns vor allem Pergament und Papier, seltener Wachs. Sie dienten, vergleichbar den Urbaren, dazu, Privilegien und Normen festzuschreiben, Rechts- und Verwaltungsakte, Gerichtsbarkeit, Haushaltsführung des Stadtrates, Immobilien- und Finanzgeschäfte sowie Erbschaften und Vermächtnisse der Bürger zu dokumentieren und zu bezeugen und damit soziale Beziehungen darzustellen und zu bewahren, Verfahren zu sichern und Glaubwürdigkeit herzustellen, zu ordnen und zu organisieren, Traditionen zu (re)konstruieren und mit Geschichte Legitimierungsargumente zu liefern. Konrad Beyerle beschrieb Stadtbücher mit den allgemeinen aber zutreffenden Worten: „Stadtbücher sind in Buchform geordnete schriftliche Aufzeichnungen städtischer Behörden seit dem Mittelalter. Sie stehen in Gegensatz zur losen Aktenführung der Neuzeit wie zu der Einzelurkunde. Ihr Inhalt ist ein sehr mannigfaltiger. Er hat sich mit der Entwicklung des städtischen Kanzleiwesens immer mehr differenziert.“1
Stadtbücher gestatten einen der ergiebigsten Einblicke in das Leben mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Städte. Sie waren weit mehr als nur ein Hilfsmittel zur Wirtschaftsführung, Rechtssicherung und Verwaltungsorganisation, sie waren ein zentraler Bezugspunkt der sozialen Beziehungen innerhalb einer Stadt. Gleichwohl gehören sie zu den am wenigsten erforschten Quellen. Die Überlieferung ist extrem breit gestreut und dadurch für die Forschung schwer zugänglich und kaum zu überblicken. Besonders das Material aus kleineren Kommunen, die die Masse der vormodernen Städte darstellten, ist bisher kaum bekannt. Daraus ergibt sich die bislang nicht bewältigte Aufgabe, jene bisher wenig beachteten Stadtbuchbestände überhaupt erst einmal zu erfassen und zu untersuchen. Denn solange nicht einmal Klarheit über die materielle Überlieferungssituation in mittleren und kleineren Kommunen herrscht, die die Mehrheit der Städte des Deutschen Reiches bildeten, können die diesbezüglichen Forschungsergebnisse auch nicht als repräsentativ erachtet werden bzw. ist deren Erklärungs- und Deutungshorizont beschränkt. Die für eine systematische und vergleichende Stadtbuchforschung unabdingbare Voraussetzung eines zentralen und frei zugänglichen detaillierten Verzeichnisses der Stadtbuchbestände, wird nun mit dem „Index Librorum Civitatum“ seit dem Frühjahr 2011 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Angriff genommen werden.
Grundlagen und Erfassungsgebiet des Index Librorum Civitatum (Verzeichnis der Stadtbücher des Mittelalters und der Frühen Neuzeit bis ca. 1800)
Die bisher im Beta-Stadium benutzbare Datenbank des Index Librorum Civitatum (ILC) basiert auf einem maschinenschriftlichen Manuskript, das dem Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Prof. Ranft) zur Verfügung gestellt wurde. Jenes Verzeichnis, welches zwischen 1977 und 1990 unter der Regie der Staatlichen Archivverwaltung der DDR entstand, beinhaltet Nachweise zu ca. 70.000 Stadtbüchern aus 435 Städten auf dem Gebiet der heutigen fünf Bundesländer Berlin/Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen2. Die Ergebnisse dieses mit unglaublichem Arbeitsaufwand vorangetriebenen Projektes, das unter den heutigen föderalen Archivverwaltungsstrukturen kaum möglich wäre, konnten nach der politischen Wende von 1989/90 nicht mehr publiziert werden. Um diese einzigartige Materialsammlung endlich der Forschung zugänglich zu machen, wurde das Manuskript in digitale Form konvertiert und die Daten einer informationstechnischen Remodellierung unterzogen. In einer im Aufbau befindlichen Online-Datenbank3, sind die vorhandenen Inhalte bereits einsehbar. Die Einträge der Datenbank werden derzeit aber noch einer Revision unterzogen. Die Erschließungstiefe der Stadtbuchbestände wird sich dabei für jeden einzelnen Bestand an den Anforderungen der erarbeiteten Erfassungsrichtlinien orientieren4. Wegen der Überlieferungsmasse kann es hier vorerst nur um eine Aufnahme der einst bzw. heute noch vorhandenen physischen Einheiten gehen sowie um eine ganz allgemeine Benennung der jeweiligen Inhalte. Für die Bestandserfassung der Stadtbücher wurden elf Kategorien gebildet:
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Stadtbücher mit vermischtem Inhalt
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Kopiare, Register
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Statuten, Willküren, Ordnungen, Rezesse
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Bücher des Rates (Protokolle, Briefe, Vereidigung des Rates etc.)
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Bürgerbücher, Erbhuldigungen
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Gerichtsbücher
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Zinsregister
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Steuerbücher
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Zollbücher
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Rechnungsbücher
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Sonstige Stadtbücher
Die Erschließung in der Breite wird in der Tiefe durch die zusätzlichen Datenerhebungen für eine Pilotstudie zur Oberlausitzer Städtelandschaft ergänzt. Diese exemplarische Untersuchung der Überlieferung des administrativen Schriftguts der Städte des 1346 gegründeten Sechsstädtebundes wird neben der Erschließung der Stadtbuchbestände jener Region vertiefende und weiterführende inhaltliche Fragestellungen verfolgen, die mit den Schlagworten Medien, Kontexte und Träger administrativen Schriftguts zusammengefasst werden können. Die Erforschung der Ratsarchive von Görlitz, Bautzen, Löbau und Kamenz wird jeweils bei den ersten buchförmigen Überlieferungsträgern im 13./14. Jahrhundert beginnen und bis zum Jahr 1547/48 fortgeführt. In jenem Jahr verloren die Oberlausitzer Städte durch den „Pönfall“ vorläufig ihre Selbständigkeit, was sich zum Beispiel auf das Kanzleipersonal und die Überlieferungssituation auswirkte (Auslieferung der Archivbestände). Aufgrund des zum Teil vollständigen Verlusts von Archivalien für die Zeit vor 1550 können die Archive von Lauban (poln. Lubań) und Zittau nicht in die Tiefenerschließung mit einbezogen werden. Die Ergebnisse und die Impulse aus der praktischen Anwendung des ILC für die Oberlausitzstudie werden dabei zurückwirken auf die Analyse- und Erfassungskriterien wie auch auf die Abfrage- und Präsentationsmöglichkeiten der ILC-Datenbank und helfen, diese zu verfeinern sowie weiterzuentwickeln.
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