Hecht, Michael: Patriziatsbildung als kommunikativer Prozess. Die Salzstädte Lüneburg, Halle und Werl in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln u.a. 2010 (Städteforschung. A, 79) [Böhlau, 377 S., kart., 52,90 Euro].
In seiner bei Werner Freitag und Barbara Stollberg-Rilinger in Münster angefertigten Dissertation nimmt sich Michael Hecht mit der Frage nach dem Patriziat einem Dauerbrenner der historischen Städteforschung an. Aus einem sehr knappen, aber präzisen Forschungsüberblick heraus verwirft Hecht einen definitorisch klar umrissenen Patriziatsbegriff , der sich an rechtlichen, sozialen und ökonomischen Zuweisungskriterien orientiert, und legt sein Erkenntnisziel stattdessen auf den Prozess der Patriziatsbildung, für ihn „ein kontinuierlicher, vor allem […] innerstädtischer Verständigungs- und Aushandlungsprozess […], der auf Kommunikation beruht […], eine stetige Hervorbringung von Ordnungsvorstellungen und Verteidigung von Geltungsansprüchen“ (S. 7). Die inhaltliche Ausrichtung der Untersuchung an den Ergebnissen und Prämissen des SFB 496 ‚symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme‘ ist augenfällig.
Hecht muss bei seinem Dreiervergleich nicht nur die Städte Lüneburg, Halle und Werl insgesamt mit ihren spezifischen politischen sowie gesellschaftlichen Entwicklungen im Auge behalten und jeweils auf die innerstädtische Sondergruppe der Sälzer herunterbrechen, sondern auch allgemeine soziale, rechtliche, politische sowie kulturelle Wandlungen zwischen dem Anfang des 15. und dem Ende des 17. Jahrhunderts berücksichtigen. Es sei bereits hier bemerkt, dass dies dem Verfasser gut gelingt und er der in der Anlage seiner Arbeit begründeten Gefahr entgeht, seine Abhandlung mit einer Vielzahl von Redundanzen zu schmücken. Vielmehr liegt hier eine gut systematisierte und wohldurchdachte Analyse vor, die es nun inhaltlich vorzustellen gilt.
Nach der Einleitung mit Aussagen zu Forschungsstand, theoretischen Grundlagen und historischen Abrissen der Entwicklungsgeschichte der drei Untersuchungsstädte nimmt sich Hecht im ersten inhaltlichen Kapitel ‚organisatorischen Grundlagen der Pfännerschaften‛ (S. 30-83) an. Dieses Kapitel ist der Vorstellung der drei Pfännerschaften gewidmet, hier werden Besitz- und Beteiligungsstrukturen, Kriterien für die Mitgliedschaft, die Ämterstrukturen und das soziale Profil der Pfännerschaften vorgestellt. Die jeweiligen Besonderheiten seien in Lüneburg die klare Trennung von Solgutbesitz und Siederecht sowie die starke Beteiligung geistlicher Institutionen, in Halle der ausgeprägte Handel mit Eigentumsrechten an den Siedepfannen sowie eine starke Stellung des Landesherrn und in Werl die stärkere Exklusivität der Besitz- und Beteiligungsformen sowie ein enges Konnubium der Sälzerfamilien gewesen.
Das folgende Kapitel ist der Kern der Untersuchung. Hierin untersucht Hecht ‚Praktiken der Integration und Distinktion als institutionelle Mechanismen‘ (S. 84-254) und wendet sich fünf Themenkomplexen zu. In der Ausprägung von städtischen ‚Erinnerungskulturen‘ hätten die Werler Sälzer einen deutlicheren Einfluss geltend machen können als die in Lüneburg und Halle. Auch bezüglich der ‚Initiationsrituale‘ habe Werl eine Sonderrolle eingenommen. Seien in Lüneburg und Halle Funktionsverschiebungen von der herstellenden zur darstellenden rituellen Handlung zu beobachten, habe die Aufnahmepraxis der Werler Sälzer die stadtgeschichtlichen Zäsuren ohne zeremonielle Überformung überstanden. Des Weiteren untersucht Hecht ‚Zulassungskonflikte‘ bei der Aufnahme neuer Korporationsmitglieder sowie ‚Präzedenzstreitigkeiten‘ der Sälzer innerhalb der städtischen Gesellschaften. Die ‚Erkennungszeichen‘ der Sälzer machen den letzten Punkt dieses Kapitels aus. Der Verfasser geht hier insbesondere Kleiderordnungen, Titeln, Wappen, Grabsteinen und Epitaphien sowie der Selbstdarstellung der Sälzer in der städtischen Architektur nach.
Im zweiten, deutlich kürzeren Hauptkapitel analysiert Hecht die ‚ständischen Rollen und Karrieremuster der Pfänner‘ (S. 255-298). Sälzer agierten als Händler, Ratsherren und im Fürstendienst. Zudem sei vor allem im 17. und 18. Jahrhundert eine deutliche Tendenz zur Orientierung an adeligen Lebensweisen zu beobachten. Damit einhergehend sei die Orientierung der Sälzer am Handelsgeschäft rückgängig gewesen. Dies beides habe zu einer wachsenden Loslösung der Sälzer vom Produktionsbetrieb des Salzes, von den Städten und den Salzwerken geführt.
Insgesamt sei trotz allgemein gleichförmiger Tendenzen nicht von einem einheitlichen Typus eines Salzpatriziats auszugehen. Die Vergemeinschaftungen und Konstruktionsprinzipien von Patriziat seien in den untersuchten Städten zu unterschiedlich gewesen. Es offenbaren sich nach Hecht in Lüneburg, Halle und Werl eher verschiedene Muster sozialen Wandels städtischer Eliten.
Die Anlage der hier besprochenen Arbeit ist komplex und zudem wendet Hecht sich verschiedenen historischen Forschungsrichtungen zu. Er muss seine Leser in die Erinnerungskultur ebenso einführen wie in den Konfliktbegriff, in die symbolische Repräsentation, in das Initiationsritual und vieles mehr. So liest man leider nicht nur an einer Stelle, dass es aus arbeitsökonomischen Gründen Einschränkungen geben müsse. So sei der Forschungsüberblick nur „sehr grob und holzschnittartig“ (S. 7) erfolgt, es sei Hecht nicht um eine Vollständigkeit gegangen (S. 70) oder es könne bei den „knappen Ausführungen nur um einige Sondierungen“ (S. 256) gehen. Dennoch: Die Wahl der Flughöhe seiner Betrachtung ist konsequent, inhaltlich logisch und begründbar. Er verliert sich weder in Details noch in Oberflächlichkeiten, vielmehr ist seine Analyse qualitativ hochwertig. Hecht liefert ein lesenswertes Buch ab, dem eine weite Verbreitung zu wünschen ist.
Dennis, Hormuth, Kiel
Stösser, Anke: Marburg im ausgehenden Mittelalter. Stadt und Schloss, Hauptort und Residenz, Marburg 2011 (Schriften des Hessischen Landesamtes für geschichtliche Landeskunde, 41) [Hessisches Landesamt für Geschichtliche Landeskunde, 351 S., kart., 29 Euro].
„Stadt und Schloss, Hauptort und Residenz“ – bereits der Untertitel von Anke Stößers Werk deutet an, dass sich hinter dem gut 350 Seiten starken Band weder eine klassische Stadtgeschichte noch eine reine Hofgeschichte, sondern eine facettenreiche Untersuchung des spätmittelalterlichen Marburg verbirgt. Und tatsächlich verfolgt die Verfasserin in ihrer Dissertationsschrift das Ziel, die Verbindungen zwischen Stadt, Hof und Landesherrschaft aufzuzeigen sowie die Entwicklung Marburgs als Hauptort und Residenz nachzuvollziehen. Quellenmäßig stützt sie sich vor allem auf seit 1471 zahlreich überlieferte Rechnungen (eine systematische Auflistung der Quellen findet sich auf S. 17-24) und definiert in Anlehnung an die umfangreiche Hof- und Residenzenforschung „Hauptort“ als festen Sitz der zentralen Verwaltungseinrichtungen und „Residenz“ als herausgehobenen Aufenthaltsort des Fürsten in seinem Herrschaftsgebiet (S. 3f.). Dass mit der 2. Hälfte des 15. Jahrhundert ein relativ eng umgrenzter Untersuchungszeitraum gewählt wurde, hängt mit der politisch-territorialen Entwicklung der Landgrafschaft Hessen zusammen. Diese war zwischen 1458 und 1500 in eine ober- und eine niederhessische Hälfte geteilt, was die notwendige Herausbildung zweier Residenzen nach sich zog und die Entwicklung der (oberhessischen) Residenz Marburg neben dem größeren (niederhessischen) Kassel überhaupt erst herbeiführte.
Nach zwei kurzen Einführungen zur Landgrafschaft Hessen und zur landgräflichen Familie von Hessen-Marburg im 15. Jahrhundert nähert sich Stösser ihrem Thema in insgesamt vier Kapiteln. Im ersten Kapitel „Residenzstadt und Hauptort Marburg“ (S. 43-115) spürt sie der städtischen Entwicklung seit der 2. Hälfte des 12. Jahrhundert nach und widmet sich einer differenzierten Betrachtung der Stadt in topographischer, wirtschaftlicher, sozialer, administrativer und kirchlicher Hinsicht für den oben beschriebenen Untersuchungszeitraum. Dabei zeigt sie, dass Marburg bereits unter Landgraf Heinrich I. von Hessen in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts ein bevorzugter Aufenthaltsort war, im ausgehenden 14. Jahrhundert jedoch immer mehr hinter das aufstrebende Kassel zurückfiel und im Wesentlichen als regionales Verwaltungszentrum fungierte. Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit dem Marburger Landgrafenschloss (S. 117-191) und gibt Aufschluss über dessen Baugeschichte seit dem frühen 11. Jahrhundert, ehe der bauliche Zustand in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts beschrieben wird und die detaillierten Informationen zu den Innenräumen und wirtschaftlichen Einrichtungen das zunehmende Streben nach Repräsentation und Versorgung des Hofes zum Ausdruck bringen. Anschließend wendet sich Stösser dem landgräflichen Hof zu (S. 193-242), dessen personelle Zusammensetzung sie, angefangen bei der Landesverwaltung mit Hofmeister, Kanzlei, Rat und Kammer über das Hofgesinde bis hin zu den militärischen und wirtschaftlichen Funktionsträgern, im Rahmen des Untersuchungszeitraums einer genauen Analyse unterzieht. Das letzte Kapitel „Wirtschaft, Konsum und Hofleben in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts“ (S. 243-301) dreht sich um die wirtschaftlichen Grundlagen des Hofes. Ausgehend von den finanziellen Voraussetzungen und der für eine Versorgung des gesamten Hofes nicht ausreichenden landgräflichen Eigenwirtschaft, untersucht die Verfasserin sehr breit gefächert, welche Waren und Dienstleistungen der Hof benötigte, woher er sie erhielt und inwiefern Feierlichkeiten die Organisation beeinflussten. Auf diese Weise kann sie u.a. belegen, dass Statusunterschiede durch unterschiedliche Nahrung und Kleidung ausgedrückt und Versorgungsengpässe durch die Verwendung einer Vielzahl von Lieferanten vermieden wurden.
Sie wolle die Lücke zumindest teilweise schließen, schreibt Anke Stösser in der Einleitung ihres Werkes (S. 5) und meint damit, die Marburger Residenz und Hofgesellschaft auch einmal abseits des sonst üblichen Vergleichs mit Kassel ins Blickfeld zu nehmen. Herausgekommen ist dabei die exemplarische Untersuchung einer Residenz, deren unspektakulären Charakter die Verfasserin mehrfach betont, wenn sie etwa von der „Residenz ohne auffällige Besonderheiten“ (S. 305), der mangelnden Ausstrahlungskraft (S. 199) oder der „lediglich regionalen Bedeutung“ (S. 291) spricht – Attribute, wie sie auf die Mehrheit der spätmittelalterlichen Residenzstädte zugetroffen haben dürften und die damit den besonderen Reiz des Untersuchungsgegenstandes Marburg offenbaren, nämlich den „Einblick in das gewöhnliche Leben an einer Residenz des ausgehenden Mittelalters“ (S. 305). Stössers Werk überzeugt durch seine klare Struktur, die das Gesamtbild Residenzstadt Marburg in ihre einzelnen Bestandteile Stadt, Schloss und Hof aufspaltet und differenziert analysiert. Dadurch werden viele Detailinformationen zur Alltags-, Hof- und Konsumgeschichte geboten. Diese Stärke der Forschungsarbeit ist jedoch zugleich ihre Schwäche: Aufgrund des stark deskriptiven Charakters der Darstellung, die über weite Strecken „nur“ den Zustand des Marburger Hofes in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts beschreibt, bleiben die Transformationsprozesse von der Stadt zur Residenz oder zum Hauptort merklich im Hintergrund, obschon sich Stößer durchaus um die Nachvollziehung von Entwicklungslinien bemüht. Zugleich wird durch die Dominanz der Hofperspektive die durch den Untertitel implizierte Balance zwischen den Themenbereichen Stadt, Schloss und Residenz stark beeinträchtigt. Zwar macht die Autorin auf die Berührungspunkte zwischen Stadt und Hof wiederholt aufmerksam, etwa in Zusammenhang mit den Beziehungen zwischen der städtischen Führungsgruppe und dem Hof (S. 88-91) oder der Versorgung des Hofes mit hiesigen Waren und Dienstleistungen (S. 281-284), jedoch bleiben die entsprechenden Hinweise sowie die Anmerkungen zur städtischen Entwicklung insgesamt eher kursorisch und oberflächlich – ein Eindruck, den Stösser bestätigt, wenn sie z.B. pauschalisierend schreibt, dass ökonomische Aspekte bei Stadtgründungen keine große Rolle spielten (S. 50) oder dass es in Marburg zur Ausbildung einer „typisch mittelalterlichen Ratsverfassung“ kam (S. 113). Auch die Vermutung, dass Marburg als Stadt einen Bedeutungsverlust durch die Anwesenheit des Hofes erlitten haben könnte (S. 112), überzeugt nicht, weist jedoch den Weg zu einer Untersuchung städtischen Bewusstseins. So enthält die Publikation einige interessante Ansätze, die zugunsten der akribischen Hofbeschreibung jedoch zurückgestellt bzw. nur am Rande betrachtet werden. Trotz dieser Kritikpunkte aber ist Anke Stösser eine kenntnisreiche und höchst informative Darstellung des Marburger Hofes in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts gelungen, die direkt aus den Quellen erarbeitet wurde und ein weiteres Puzzlestück bei der Erforschung der spätmittelalterlichen Residenzen aufdeckt.
Nina Kühnle, Kiel
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