Interview mit:
Günter Blobel
Der Traum des Managers, nach einem arbeitsamen Leben auf
die einsame Insel zu gehen, ist eine Illusion. Er würde eingehen.
Denn der Mensch muss sich stets neu erfinden – ein Leben lang.
Das schreiben ihm seine Zellen vor, besonders die im Gehirn, in
welchen die Entscheidungen getroffen werden, die durch die
Einflüsse unserer Sinnessysteme und der bisher gespeicherten
Erfahrungen gesteuert werden. Nobelpreisträger Günter Blobel
von der Rockefeller University in New York sagt im Gespräch mit
“persönlich”, was es mit der menschlichen Energie, dem
Charisma und der Firma als Organismus auf sich hat. Interview:
Oliver Prange, Fotos: Marc Wetli
“Der Mensch kopiert sich laufend selbst.”
“Leute, die Charisma haben, haben meistens
auch sehr viel Energie.”
“Die Art und das Ausmass der Vernetzungen
unserer Nervenzellen sind die Grundlage für das
Bewusstsein und die Intelligenz.”
“Leider ist dieses vom kategorischen Imperativ
temperierte Machtstreben nur selten anzufinden.”
Sie sind Professor für Zell-Biologie an der Rockefeller
University in New York und erhielten 1999 den Nobelpreis für
Physiologie und Medizin. Welches Geheimnis des Lebens
haben Sie gelüftet?
“Die Einheit allen Lebens ist die Zelle. Jede Zelle enthält
Millionen von Proteinen. Proteine fungieren als Katalysatoren.
Um das zu tun, müssen sie an die richtigen Adressen innerhalb
der Zelle verteilt werden. Dabei müssen sie eine oder mehrere
bestimmter zellulärer Membranen durchqueren oder
asymmetrisch in sie hineingewoben werden. Doch man wusste
damals noch nicht, wie das geschieht. Ich hatte die Idee, dass das
so ähnlich sein könnte wie bei der Post – da gibt es sehr viele
Briefe, die verschickt werden müssen, mithilfe der Postleitzahlen.
Vielleicht gab es ja auch eingebaute ‘Postleitzahlen’ für Proteine
und entsprechende Systeme, die diese Postleitzahlen dekodieren
und den Transport zur richtigen Adresse bewerkstelligen. Diese
Idee hat sich als richtig herausgestellt.”
Wofür sind Ihre Erkenntnisse zur Grundlage geworden?
“Es stellte sich heraus, dass diese Postleitzahlen und auch die
Systeme, die diese Postleitzahlen dekodieren und den Transport
von Proteinen erlauben, während der Evolution in Zellen von
allen Lebewesen (Bakterien, Pflanzen, Tieren, Menschen)
konserviert wurden. Wir verstehen jetzt besser, wie sich Zellen in
Zellkompartimente und ihre abgrenzenden Membranen
organisieren. Und wie Zellen bestimmte Proteine, seien es
Hormone, wie Insulin, oder Verdauungsenzyme, wie Trypsin, oder
Antikörper oder andere Proteine aus der Zelle herausschleusen.
Von der praktischen Anwendung her gesehen sind unsere
Erkenntnise wichtig für die Produktion von Proteinen für
medizinische Zwecke. Viele dieser Proteine (etwa ein Zehn-
Milliarden-Dollar-Markt und weiter wachsend) werden zur
einfacheren Aufreinigung mit den Prinzipien, die wir beschrieben
haben, aus den produzierenden Zellen herausgeschleust. Und von
der Medizin her gesehen, wenn ein Protein nicht an die richtige
Adresse gelangt, kann es seine Funktion nicht ausüben, ja sogar
schädliche Folgen haben, ähnlich wie ein Liebesbrief, der an die
falsche Adresse gesandt wurde. Fehler in der Adressierung von
Proteinen sind nicht selten und können zu gravierenden
Krankheiten führen.”
Können Sie in einem Satz beschreiben, was Leben ist?
“Leben ist das, was Sie daraus machen.”
Manche Menschen – Manager, Sportler, Künstler – sind
Energiebündel, die immer wieder etwas Neues anpacken und
kreieren. Andere bringen nichts auf die Reihe. Woran liegt
das, woher kommt die menschliche Energie?
“Es ist wohl eine Mischung aus genetisch bedingten Faktoren und
solchen, die vom Umfeld bestimmt werden.”
Manche Menschen haben Charisma oder eine starke Aus-
strahlung; man spürt körperlich ihre Präsenz und Stärke,
auch wenn sie gar nicht in Aktion sind. Haben diese Eigen-
schaften mit der Energiedimension dieses Menschen zu tun?
“Leute, die Charisma haben, haben meistens auch sehr viel
Energie. Aber Charisma ist noch etwas anderes: Charismatische
Menschen sind wie Sender, die etwas ausstrahlen, für das viele
Menschen Antennen haben und das viele Menschen anspricht.
Charisma aber braucht auch eine Plattform, einen exponierten
Transmitter.”
Medizinisch lässt sich Charisma nicht erklären?
“Bisher nicht, wenn überhaupt je.”
Menschen brauchen eine Art Stimulans, um in Gang zu
kommen. Das kann Macht sein, das kann Geld sein, das kann
Liebe sein. Kommt es auf die Art des Stimulans an, der den
Menschen in eine bestimmte Richtung treibt?
“Besonders die mehreren Milliarden Nervenzellen im Gehirn
müssen ständig stimuliert werden. Jede dieser Nervenzellen ist
mehr als tausendfach mit bestimmten anderen Nervenzellen durch
Proteine in den sie umgebenden Membranen vernetzt. Die Art
und das Ausmass dieser Vernetzungen sind die Grundlage für das
Bewusstsein, für das Gedächtnis und die Intelligenz. Um vor-
handene Vernetzungen zu erhalten und neue herzustellen, müssen
diese Zellen stimuliert werden. Wenn man die Zellen nicht
stimuliert, werden die Vernetzungen abgebaut, und letztendlich
sterben die Zellen ab.”
Lebende Systeme erschaffen sich also ständig selbst?
“Sie als Mensch fangen als einzelne Zelle an, und dann teilt sich
die in zwei, vier, acht, sechzehn Zellen und so weiter. Es braucht
im Durchschnitt ungefähr 50 Zellteilungen, um die Trillionen von
Zellen zu erzeugen, die einen menschlichen Körper ausmachen.
Bestimmte Zellen teilen sich nach einem bestimmten Alter nicht
mehr, während andere sich für das gesamte Leben teilen, um
abgestorbene Zellen zu ersetzen. Zellersatz findet regelmässig in
vielen Geweben statt. Die meisten Gewebe enthalten einen
kleinen Anteil von Zellen, die als so genannte Stammzellen
fungieren und abgestorbene Zellen ersetzen können.”
Wir sind eine Kopie unserer selbst?
“Der Mensch kopiert sich laufend selbst. Nur ungefähr ein
Gramm in Ihrem Körper hält ein ganzes Leben lang; alles andere
wird erneuert. Während einer Periode von ungefähr zehn Jahren
zum Beispiel wird Ihr gesamtes Skelett erneuert. Nur ein Gramm
ihres Körpers bleibt mit Ihnen zeit Ihres Lebens; und das ist die
DNA in den Stammzellen und den Zellen, die sich nach der
Geburt nicht mehr teilen (die meisten Zellen im Gehirn). Aber
auch die DNA dieser Zellen erleidet Schäden, und die Schäden
können von der Zelle repariert werden. Also auch da, wenn nicht
Erneuerung, so doch zumindest Reparatur. Wenn Zellen sterben,
wird alles abgebaut, auch die DNA.”
Das bedeutet, dass der Traum vieler Menschen, zuerst
einmal viel Geld zu verdienen und dann auf einer Insel gar
nichts mehr zu tun, vollkommen illusorisch ist. Weil der
Mensch ständig stimuliert werden muss und ohne Stimulation
zugrunde geht.
“Die meisten Leute, die erfolgreich waren, wollen ja gar nicht auf
eine von der Welt abgeschlossene Insel. Wenn sie das nicht
wissen, dann merken sie es spätestens, wenn sie auf der Insel
sitzen und es bergab geht. Dann sind sie unzufrieden. Eine Insel
ist schön zur Erholung. Aber auf die Dauer fehlt das menschliche
Stimulans, die Interaktion mit anderen Umgebungen.”
Es ist also tief in der Natur verankert, in unseren Zellen, dass
der Mensch ständig auf der Suche ist, sich weiter entwickeln
muss. Was bedeutet es nun, wenn man von Machtfragen
getrieben wird, wie viele Manager notgedrungen in Grossbe-
trieben?
“Streben nach Macht ist durchaus nicht negativ, wenn es
temperiert wird von der Erkenntnis, dass man die Macht nicht
egoistisch, sondern altruistisch einsetzen soll. Leider ist dieses vom
kategorischen Imperativ temperierte Machtstreben nur selten
anzufinden.”
Stimmt es, dass es in der Natur weder Zweck noch Planung
gibt? Unser Bewusstsein verlangt ja von uns zu planen, ein
Ziel anzustreben. In dem Sinne leben wir also gegen die
Natur?
“Es gibt keinen Zweck und keine Planung in der Natur. Die Natur
verändert sich und schafft dadurch neue Bedingungen. Und das,
was sich am besten an neue Bedingungen anpasst, überlebt. Das
wäre das Darwinsche Prinzip. Das trifft zu für die Zellen, für ganz
primitive Organismen, auch für den Menschen und die Tiere, und
letztendlich auch für die Materie.”
Könnte man daraus schliessen, dass unser ständiges Streben
nach irgendwelchen Zielen eigentlich sinnlos ist?
“Nein, überhaupt nicht. Jeder sollte versuchen nach dem
kategorischen Imperativ zu leben und seine Ziele danach
auszurichten. Dies ist ein Privileg des Menschen, nicht der Tiere.”
Der Unterschied ist das Bewusstsein. Der Mensch ist sich
seiner selbst bewusst. Sie können sich in der Medizin noch
keinen Reim darauf machen, was Bewusstsein ist, was Seele
ist?
“Alles Leben geht zurück auf Zellen, die vor mehr als drei
Milliarden Jahren entstanden sind. Sie haben sich seitdem
ununterbrochen geteilt. Das ewige Leben ist daher die ewige
Zellteilung. Diese Zellen haben zunächst als Einzeller gelebt.
Später haben aber einzelne Zellen die Eigenschaft entwickelt,
durch Arbeitsteilung innerhalb komplizierter Organismen
zusammenzuleben und immer kompliziertere Aufgaben zu
bewältigen. Vom zellulären Standpunkt aus sind Sie, so wie Sie
hier sitzen, über drei Milliarden Jahre alt, stellen also mehr als
drei Milliarden Jahre kontinuierlicher Zellteilung, kontinuier-
lichen Lebens dar! Sie sind also ein Teil des ‘ewigen Lebens’. Die
Seele und das Bewusstsein sind in der Arbeitsteilung und im
Zusammenwirken der Trillionen Zellen im Gehirn verankert.”
Sind menschliche Organisationen auch eine Art Organismen?
“Ja, genau so wie sich Zellen zusammentun um einen Organismus
zu bilden, können Menschen sich in Familien, Firmen, Staaten und
anderen Gruppierungen zusammentun. Durch Arbeitsteilung und
Synergie können diese Organisationen, ähnlich wie Organismen,
mehr erreichen als der individuelle Mensch oder die individuelle
Zelle. Die Summe ist mehr als die Teile.”
Und wie ist das in einer Firma? Die besten Firmen leben nach
einer gemeinsamen Vision. Macht sie das auch zu einem
Organismus?
“Ja, man kann Firmen als Organismen begreifen. Wie bei
Organismen gibt es Hierarchien, die zum Wohle des ganzen
Organismus wirken sollen. Und jeder Organismus (Firma) muss
auch auf seine Umwelt Rücksicht nehmen, wenn er sich nicht
selbst terminieren will.”
Wie unterscheidet sich eigentlich ein Wissenschaftler von
einem Strassenkehrer? Beide sind Menschen, doch gibt es
grosse Unterschiede.
“Ein Wissenschaftler wird ständig gefordert, viele bereits be-
kannte Tatsachen zu verarbeiten und neues Wissen zu erarbeiten.
Wenn er das nicht tut, wird sich die Gesellschaft den Luxus, den
Wissenschaftler zu bezahlen, nicht lange leisten können. Der
Strassenkehrer übt eine Dienstfunktion aus. Er kann die Strasse
besser oder schlechter reinigen. Aber auch ein Strassenkehrer
könnte auf eine Idee kommen, wie man Strassen besser reinigen
könnte und damit neues Wissen kreieren und etwas zum
Fortschritt der Menschheit beitragen.”
Aber Sie wollen ja wohl die Unterschiede in der Intelligenz
nicht abstreiten.
“Vielleicht hat die Umwelt eine potenzielle, genetisch angelegte
Intelligenz in einigen Strassenkehrern weniger zur Entwicklung
gebracht.”
Wie erwirbt man die Fähigkeiten eines guten
Wissenschaftlers?
“Zuerst einmal müssen Sie die Grundlagen lernen. Wenn man in
der Biologie arbeiten will, muss man so viel wie möglich über die
schon bekannten Konzepte nicht nur in der Biologie, sondern
auch in der Physik, Chemie, Mathematik und Medizin wissen.
Man muss lernen, das Wichtige vom Unwichtigen zu unter-
scheiden und auch das Lösbare vom Unlösbaren. Es lohnt sich
nicht an Themen zu arbeiten, die man in der voraussehbaren
Zukunft gar nicht lösen kann. Wissenschaft ist die Kunst des
Lösbaren. Also muss man lernen, wichtige Fragen zu Stellen, die
man in einer gewissen Zeit lösen könnte.”
Was kann ein Manager vom Vorgehen eines Wissenschaftlers
lernen?
“Ein erfolgreicher Wissenschaftler muss lernen, mit seinen
Mitarbeitern umzugehen und zu erkennen, was sie am besten
können. Man darf solchen, die weniger talentiert sind, nicht gute
und schwierige Projekte anvertrauen. Und sehr talentierte
Wissenschaftler muss man umgekehrt mit schwierigen Projekten
herausfordern, sodass sie sich nicht langweilen. Das Wichtige ist,
alle Mitarbeiter zu engagieren, jeden nach seinen Fähigkeiten.
Vielleicht könnte ein Manager das von einem erfolgreichen
Wissenschaftler lernen.”
Besteht ein Unterschied vielleicht darin, dass der
Wissenschaftler eher mehr nach Anerkennung, während der
Manager eher mehr nach Geld strebt?
“Wenn Leute in der Wirtschaft nur nach viel Geld streben,
werden sie langfristig nicht erfolgreich sein. Bill Gates wollte in
erster Linie etwas Neues machen. Und wenn man damit auch noch
Geld verdient, kann man noch mehr Neues machen. Der Wunsch,
etwas Neues zu machen, sollte wie beim Wissenschaftler der
Motor sein. Geld kann nicht glücklich machen. Geld spenden aber
kann. Diese grosse Genugtuung habe ich genossen, als ich mich
entschied, mein Nobelpreisgeld von einer Million Dollar zu
spenden: für den Wiederaufbau der im Inferno der Bomben-
angriffe auf Dresden im Februar 1945 zerstörten Frauenkirche
und für den Neubau der von den Nazis 1938 zerstörten Synagoge
in Dresden.”
Warum Dresden?
“Ich habe Dresden wenige Tage vor der Zerstörung als Neun-
jähriger gesehen. Die einmalig schöne Elbsilhouette, dominiert
von der majestätischen ‘Steinernen Glocke’ der Frauenkirche, war
ein unvergessliches Erlebnis, und die kurz danach erfolgte Zer-
störung dieser heitersten aller deutschen Städte empfinde ich noch
jetzt als eines der traurigsten Ereignisse meines Lebens. Nach dem
Krieg hatte ich trotzdem das Glück, in einer sehr schönen, alten
und unzerstörten Stadt, Freiberg in Sachsen, aufzuwachsen. Die
täglichen Gänge durch die Gassen und Plätze der Stadt zur Schule
haben mich beglückt und inspiriert. Gottlob hatte man in Freiberg
nach dem Krieg kein Geld, die Altstadt durch monotone, moderne
Architektur zu zerstören, wie es mit vielen anderen Städten
geschehen ist. Die globale Architektur von heute ist unmensch-
lich, brutal und ein Graus. Die Ästhetik des Bauens ist verloren
gegangen, die Gebäude sprechen nicht mehr miteinander. Nur
wenige der modernen Architekten können noch kreativ bauen.
Meistens bauen sie Solitäre und viele davon haben keinen Bezug
zu ihrer Umgebung. Es ist eine der grossen ästhetischen
Tragödien unserer Zeit. Ausser die Augen zu schliessen, hat man
keine Möglichkeiten, sich vor diesen ästhetischen Insulten und
Trostlosigkeiten zu schützen. Wir kämpfen in Dresden darum,
viele der sehr gut dokumentierten Gebäude rund um die Frauen-
kirche wieder aufzubauen. Dieses Quartier war früher eines der
schönsten Barockensembles Europas. Der Vorwurf, dass man
damit Kopien herstellt, ist lächerlich. Viele der Gegner sind von
einer Art Fetischismus für alte Steine befallen. Selbst Steine leben
und sterben wie Zellen, und müssen kopiert werden, wenn man
die Idee des Gebäudes, des Organismus, erhalten will.”
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