1
Leitfaden für die Physiotherapie bei
Morbus Parkinson
Zusammenfassung aus der deutschen Fassung der „Europäischen Physiotherapie-
Leitlinie beim idiopathischen Parkinsonsyndrom
1
für die Schweiz mit besonderem
Augenmerk für die praktische Anwendung der QRC
Inhalt
1. Einleitung .................................................................................................................................. 1
2. Ziel und Vorgehen der Schweizer Arbeitsgruppe ..................................................................... 2
3. Beschreibung von MP mit dem bio-psychosozialen Modell (ICF) .......................................... 2
4. Physiotherapie für PMP: Schwerpunkte ................................................................................... 4
5. Anamnese (Quick Reference Card 1) ....................................................................................... 8
6. Befund Körperfunktions-, Aktivitäts- und Partizipationsebene (Quick Reference Card 2) ...... 9
7. Physiotherapeutische Behandlung bei PMP (QRC 3 und 4) ................................................... 12
8. Gesundheitsmanagement ........................................................................................................ 20
9. Schlusswort ............................................................................................................................. 20
10. Referenzliste ........................................................................................................................... 28
1. Einleitung
Morbus Parkinson gehört mit einer Prävalenz von 0,1 bis 0,3% in Europa
2
zu den häufigsten
neurodegenerativen Erkrankungen. Die Behandlung von Patienten mit Morbus Parkinson (PMP) ist für
Physiotherapeuten eine Herausforderung. Eine Vielzahl von Problemen, die im Krankheitsverlauf
auftreten, wie z.B. Gang- und Gleichgewichtsdefizite
3,4,5
, sprechen nur unzureichend auf Medikamente
an. Aus diesem Grund spielt die Physiotherapie neben anderen nicht-medikamentösen Therapien eine
wichtige Rolle in der erfolgreichen Behandlung von Patienten mit MP (PMP)
6
. Es gibt mittlerweile
Studien
7,8,9
, welche zeigen, dass eine gezielte Therapie die parkinsonspezifischen Symptome und deren
sekundären Folgen hinauszögern oder reduzieren können. Die Evidenz dazu ist jedoch nicht
abschliessend geklärt
10
und die Nachfrage nach evidenzbasierter Therapie dementsprechend gross.
Richtlinien und Reviews können dabei einen Lösungsansatz darstellen, weil sie den einzelnen
Therapeuten Anhaltspunkte bieten, seine Interventionen zu reflektieren und allenfalls notwendige
Optimierungen vorzunehmen. Eine Guideline wurde speziell für die Physiotherapie erstellt. Unter der
Leitung des niederländischen Berufsverbandes hat eine Forschergruppe 2004 die ersten Richtlinien für
physiotherapeutische Behandlungen bei Parkinsonpatienten publiziert
11
. 2015 wurden diese Richtlinien
auf Aufforderung der APPDE (Association of Physiotherapists in Parkinson’s disease Europe) in
europäischer Zusammenarbeit aktualisiert und bereits online zur Verfügung gestellt
12
. Das Ziel war,
basierend auf neuen Forschungsergebnissen, die physiotherapeutischen Behandlungen zu verbessern.
Deshalb wurden Empfehlungen für Anamnese, Befund, Behandlung und Assessments abgegeben, die
jeder Therapeut für spezifische und problemorientierte Behandlungen nutzen kann.
Die deutschsprachige Leitlinie der Leitlinien Entwicklungsgruppe (LEG)
kann kostenlos gedownloaded werden auf: http://www.parkinsonnet.de
2
Als eine Art Zusammenfassung der Leitlinie wurden sogenannte „Quick Reference Cards (QRC)“
erstellt, worin von den Guideline-Entwicklern als wichtig erachtete Empfehlungen tabellarisch
dargestellt wurden. Es sind 4 QRC`s: Anamnese (QRC 1), Befund (QRC 2), Stadien-spezifische
Behandlungsziele (QRC 3) und evidenzbasierte Behandlungsmassnahmen (QRC 4). Die übersichtlich
gestalteten QRCs werden während der Behandlung als Checklisten zur Unterstützung des
Behandlungsprozesses eingesetzt.
2. Ziel und Vorgehen der Schweizer Arbeitsgruppe
Angeregt durch die niederländische Forschergruppe hat sich im Juni 2010 in der Schweiz eine
Interessengruppe gebildet (siehe Seite 21). Die Gruppe verfolgt das Ziel, gestützt auf die Erkenntnisse
der Leitlinie, die Behandlung von PMP in der Schweiz zu optimieren. Bei der Implementierung von
Leitlinien ist es wichtig, die Erkenntnisse möglichst einfach und kompakt zugänglich zu machen. Auf
der Basis eines Beispiels aus England
13
wurden innerhalb der Gruppe im Rahmen eines
Konsensprozesses eine Zusammenfassung der Leitlinie gemacht.
Die Interessengruppe ist davon ausgegangen, dass viele Begriffe selbsterklärend sind und direkt
angewendet werden können. Falls dies nicht der Fall ist, kann jederzeit auf das Original in Englisch
12
oder Deutsch
1
zurückgegriffen werden. Für Informationen bezüglich des Levels der Evidenz beruft sich
die Gruppe, unter Vorbehalt der Aktualität der Publikation, ebenfalls auf das Original. Andere Punkte
wurden näher beschrieben oder weiter erklärt. So kann dieses Dokument als eine Art unterstützender
„Leitfaden oder Gebrauchsanleitung“ für die QRC eingesetzt werden. Die im nachfolgenden Text
angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die deutsche Übersetzung der EU Guideline
.
Wichtiger Hinweis
:
Die Empfehlungen der Guidelines und dieses Leitfadens basieren in erster Linie
auf Forschungsergebnissen und klinischen Erfahrungen mit PMP. Deshalb sind sie nicht direkt
übertragbar für die Behandlung von Personen mit atypischem Parkinsonsyndrom (PSP, MSA und
anderen).
3. Beschreibung von MP mit dem bio-psychosozialen Modell (ICF)
3.1 Diagnose S. 21
Ein Arzt (Hausarzt oder Neurologe) stellt die Diagnose hauptsächlich an Hand vom Auftreten von
Kardinalsymptomen wie reduziertes Tempo (Bradykinesie), reduzierte Amplitude beim Bewegen
(Hypokinese), Steifigkeit (Rigor), Ruhetremor oder posturale Instablität
14,15
. Ein symmetrischer Start
der Symptome, Stürze innerhalb des ersten Jahres und keine Wirksamkeit von parkinsonspezifischen
Medikamenten gehören zu den RED Flags und deuten eher auf einen atypischen Parkinson
16
. Da es in
der frühen Phase bei beiden Formen des Parkinson 10-20% Übereinstimmung der Symptome gibt,
kommt es in bis zu 35% der Fälle zu eine Fehldiagnose durch die Hausärzte
17
. Die Symptome von MP
und die Differenzierung zwischen MP und atypischem Parkinson ist schwierig und obwohl ein MRI die
Diagnose unterstützen kann, ist MP mit 100% Sicherheit nur post-mortem diagnostizierbar
18,19
. Darum
sollte die Diagnose vorzugsweise durch spezialisierte Neurologen
20,21
erfolgen.
Die Komplexität der Parkinsonkrankheit ist gross. Defizite können eine direkte Folge der Krankheit
sein, aber auch durch Parkinsonmedikamente oder Inaktivität ausgelöst und/oder verstärkt werden. Sie
werden in Beeinträchtigungen auf Funktions- Aktivitäts- und Partizipationsebene eingeteilt:
3.2 Beeinträchtigungen auf Funktionsebene S. 23
Die primären Defizite werden durch den Dopaminmangel in der Substantia Nigra verursacht. Im
Anfangsstadium (Hoehn &Yahr I-II, Tabelle 1) sind bis auf die posturale Instabilität alle drei anderen
motorischen Kardinalsymptome je nach Subtyp in unterschiedlicher Ausprägung vorhanden: Akinese,
Rigor und Tremor.
3
Die Spätstadien des MP (Hoehn & Yahr IV-V, Tabelle 1) sind durch eine Zunahme der motorischen
und nichtmotorischen Symptome gekennzeichnet, respektive durch posturale Instabilität sowie
autonome und kognitive Beschwerden. MP ist eine komplexe Krankheit mit einer grossen Diversität.
Die Defizite können sowohl direkt durch den Dopaminmangel als auch durch parkinsonspezifische
Medikamente verursacht werden, oder mit Inaktivität der Betroffenen oder mit altersbedingten Faktoren
zusammen hängen.
3.2.1 Beeinträchtigung der motorischen Funktionen
77% bis 98% aller PMPs leiden unter Bradykinesie (langsame Bewegungen) und Hypokinese (kleines
Bewegungsausmass)
14
. Obwohl Ruhetremor das bekannteste Symptom ist, ist es nicht bei allen PMP als
Erstzeichen vorhanden. Bei Diagnosestellung zeigen ca 70% der PMP einen Ruhetremor
22
, im Verlauf
der Krankheit steigert sich dies auf bis zu 100%
14,23
. Rigor wurde in 89% bis 99% der Fälle in den
Extremitäten gefunden
14,15
und kann durch passives Durchbewegen der Extremitäten als gesteigerter
Widerstand gespürt werden. PMP beschreiben Rigor eher als eine Art Steifigkeit, welche häufig
Schmerzen auslöst, wie z.B. Schulterschmerzen, welches eine zusätzliche Beeinträchtigung sein
kann
15,24
. Auch im Bereich von Nacken und Rumpf kann (axialer) Rigor auftreten. Axialer Rigor spielt
eine wichtige Rolle im Entstehen von Haltungsdeformitäten wie Anterocollis, Skoliose, Pisasyndrom
und flektierter Nacken- und Rumpfhaltung mit flektierten Ellbogen und Knien
15
. Im späteren Verlauf
treten erste Stürze als Folge von reduzierten Haltungs-und posturalen Reflexen auf.
3.2.2 Beinträchtigungen der nicht-motorischen Funktionen
Nebst den motorischen Symptomen kommen zunehmend auch nicht-motorische Defizite zum
Vorschein
25,26
. Möglicherweise treten diese sogar vor dem Erscheinen der motorischen Symptome auf:
Störung des Riechsinnes, REM Schlaf Verhaltensstörung, Verstopfung und Depression
26–28
. Auch
mentale Beeinträchtigungen wie z.B. Gedächtnisdefizite, verlängerte Reaktionszeit, reduzierte
exekutive Funktionen (wie z.B. Planung, Dual Tasks, Selbstregulation) können beim Auftreten der
Erkrankung
29
vorhanden sein. Es sind eher die nicht-motorischen Symptome, welche die Lebensqualität
negativ beeinflussen
30
.
Im späteren Verlauf können weitere nicht-motorische Beeinträchtigungen dazu kommen: demenzielle
Entwicklung, Inkontinenz, innerliche Unruhe (40% der PMP ), Apathie (bis zu 50% der PMP)
31–33
und
sexuelle Dysfunktionen. Schätzungsweise 1 von 5 PMP erleiden eine Depression
31
.
3.3 Beeinträchtigungen auf Aktivitäts- und Partizipationsebene S.24
Aktivitätseinschränkungen, die hauptsächlich das tägliche Leben von PMP beeinträchtigen, sind
Schwierigkeiten bei Transfers (Aufstehen, Bettmobilität), Feinmotorik, Kommunikation, Essen, Gehen
und gangbezogenen Aktivitäten
34,35
. Die Einschränkungen sind abhängig vom Krankheitsstadium und
vom personen- sowie umgebungsbezogenen Kontext. Zusätzlich besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit,
dass PMP inaktiv werden. Inaktivität reduziert die allgemeine Kraft und Ausdauer massiv, was zu
weiteren Beeinträchtigungen der Aktivität und Vergrösserung der Risiken der Ko-Morbidität führt.
3.4 Lebensqualität S. 25
Der Verlust von Lebensqualität steigt mit fortschreitendem Krankheitsverlauf von durchschnittlich 33%
in der Frühphase bis zu 82% in der Spätphase. Hauptsächlich späte motorische und nicht-motorische
Defizite beeinflussen die Lebensqualität dramatisch: Depression und psychosoziales Wohlbefinden
30,36
,
bewegungsbezogene Einschränkungen, Schwierigkeiten beim Drehen und häufige Stürze
30,36,37
.
3.5 Krankheitsfortschritt, prognostische Faktoren und Sterblichkeit S.25
Der Krankheitsverlauf von MP wurde bereits 1976 von Hoehn&Yahr in 5 Stadien eingeteilt. Auch in
der klinischen Praxis verwenden viele Ärzte diese Skala (H&Y, Tabelle 1), um den Krankheitsfortschritt
zu klassifizieren. Er beinhaltet jedoch keine nicht-motorischen Symptome und ist nicht linear
38
. In H&Y
1 bis 2 werden PMP eingestuft, die in der frühen oder unkomplizierten Phase sind. Sie haben wenig
Schwierigkeiten in den ADL’s. In der komplizierten Phase (H&Y 3 bis 4) treten häufig ADL-
Schwierigkeiten sowie erste Stürze auf. H&Y 3 wird durch das Auftreten von verminderter aufrechter
Haltung charakterisiert und mit einer herabgesetzten Lebensqualität verbunden
39
. Schätzungsweise 4%
4
der PMP erreichen die späte Phase
40
(H&Y 5), wo PMP meist auf viel Hilfe angewiesen sind. In dieser
letzten Phase sind Pneumonien die häufigste Todesursache bei PMP
41–43
.
Die individuellen Schwankungen im Fortschreiten der Krankheit sind gross. Alter und Geschlecht
scheinen jedoch trotzdem eine Rolle zu spielen: Aus einem früheren Krankheitsbeginn (junges Alter bei
Krankheitsbeginn) resultiert eine höhere Wahrscheinlichkeit für Bewegungskomplikationen
44
und
Frauen erreichen die H&Y Phase 3 früher als Männer
44
, wobei sie auch früher
Bewegungskomplikationen erfahren, wie z.B. On-Off Tagesschwankungen oder Dyskinesien.
Hoehn &
Yahr
Beschreibung
1
leichte Symptome unilateral, minimale oder keine funktionellen Defizite
2
bilaterale oder axiale Symptome, keine Gleichgewichtsprobleme
3
bilaterale Symptome, leichte bis mässige funktionelle Defizite, reduzierte posturale
Reflexe, reduzierte Selbständigkeit
4
starke Behinderung in den Alltagsaktivitäten; fähig selbständig zu gehen oder stehen
5
Rollstuhlabhängigkeit, Bettlägerigkeit oder hohe Pflegebedürftigkeit
Tabelle 1:
Beschreibung der Krankheitsphasen nach Hoehn & Yahr
Im späteren Krankheitsverlauf werden PMP häufig in ein Altersheim eingewiesen. Bei 7 bis 27% der
PMP ist dies 10 Jahre nach Diagnose. Sehr häufig sind Stürze, Halluzinationen, demenzielle
Entwicklung oder hohe Belastung der pflegenden Angehörigen ein Grund für die Einweisung
45–48
. Eine
spezialisierte klinische Betreuung kann die medikamentöse Therapie optimieren, die Anzahl
Hüftfrakturen reduzieren
49,50
und die pflegenden Angehörigen entlasten. Somit kann die Einweisung in
ein Altersheim hinausgezögert werden.
4. Physiotherapie für PMP: Schwerpunkte
Gemäss den Europäischen Richtlinien
51
sind 5 Schwerpunkte der Physiotherapie bei PMP definierbar:
körperliche Leistungsfähigkeit, Transfers, Hand-/ Armgebrauch, Gleichgewicht und das Gehen
52,53
. Die
Therapie für die Haltung wird in den anderen Schwerpunkten integriert. Respiratorische Funktionen und
das Schmerzmanagement werden erläutert, da sie ebenfalls eine wichtige Rolle in der
physiotherapeutischen Behandlung der PMP
54
spielen. Der Fokus der Physiotherapie und das
Behandlungsziel sind personenspezifisch, und auf das aktuelle Stadium und das Fortschreiten der
Erkrankung bezogen (siehe QRC 3)
11,53
.
4.1 Körperliche Leistungsfähigkeit S. 37
PMP haben eine Tendenz zu einer eher inaktiven Lebensweise im Vergleich zu gleichaltrigen gesunden
Menschen: sie sind bis zu 1/3 weniger aktiv
55
. 24% dieser Inaktivität wurde durch die Schwere der
Krankheit, die Einbussen beim Gehen und der Behinderung in ADL
55
als vorhersehbar berechnet.
Mentale Symptome (z.B. Depression, Apathie, dementielle Entwicklung), Müdigkeit und persönliche
Faktoren wie Eigeninitiative beeinflussen dieses Verhalten ebenfalls
56
. Ausserdem kann Inaktivität Teil
einer kompensatorischen, fallverhindernden Strategie sein. Sturzangst ist ein vielfach auftretendes
Symptom bei PMP und kann zu einer Verminderung der auswärtigen, physischen Aktivitäten führen
57
.
Inaktivität spielt eine wichtige Rolle bei reduzierter Muskelkraft und Muskellänge, vor allem in den
gewichttragenden Muskeln bei älteren Personen
58
. Bei PMP wurde reduzierte Muskelkraft in den Beinen
mit erhöhtem Sturzrisiko und reduzierter Gehgeschwindigkeit assoziiert
59,60
. Gegenüber gleichaltrigen,
gesunden Personen ist für PMP die Kraft der Hüfte assoziiert mit dem Aufstehen und nicht mit der Kraft
der Knieextensoren
60
. Ausserdem ist bei PMP die Muskelkraft ein wichtiger Parameter für reduzierte
Muskelleistung und nicht Bradykinesie. Reduzierte Muskelkraft hängt auch mit der Leistungsminderung
des Gleichgewichts und der Mobilität zusammen
59,61,62
. Viele PMP zeigen aus noch unbekannten
Gründen zusätzlich eine allgemeine Veränderung der Haltung Richtung Flexion, häufig in Kombination
mit Lateroflexion. Langfristig führen posturale Veränderungen zu sekundärer Muskelschwäche, vor
allem in lumbalen und zervikalen Extensoren aber auch Schulteradduktoren, Hüft-/ und Knieextensoren.
5
Es besteht ein umgekehrt lineares Verhältnis zwischen dem Umfang der physischen Aktivität und der
Multimorbidität, wie z.B. Schmerzen, Osteoporose, Depression und kardiovaskuläre Krankheiten
55,56
.
Physische Inaktivität erhöht das Risiko von zahlreichen nachteiligen Gesundheitsproblemen sowie
Herzkrankheiten, Diabetes Mellitus Typ 2, Brust- und Darmkrebs und verursacht eine reduzierte
Lebenserwartung
63
.
Körperliches Training über das empfohlene Minimum hinaus und die Aufgabe des bewegungsarmen
Verhaltens führen erwartungsgemäss zu verminderter vorzeitiger Sterblichkeit und zu weiteren
Gesundheitsverbesserungen, inbesondere der kardiovaskulären Funktion.
4.2 Transfers S.38
Komplexe Bewegungsabläufe wie Transfers und manuelle Tätigkeiten werden bei fortschreitender
Krankheit nicht mehr automatisch ausgeführt und verursachen häufig Schwierigkeiten für PMP
64
.
Problematische Transfers sind insbesondere das Aufstehen vom Stuhl und das Hinsetzen auf einen Stuhl,
das Abliegen oder Aufsitzen im Bett und das Drehen im Bett
65
. Ein vielfach auftretendes Problem beim
Aufstehen ist die Tendenz der PMP, zu wenig Oberkörpervorlage zu haben, weshalb sie wieder nach
hinten fallen (Retropulsionstendenz)
53
. Wahrscheinlich spielen Faktoren wie schwache Unterstützung
der Beine gegen die Schwerkraft, mangelndes Timing in die Vorwärtsbewegung und Geschwindigkeit
des Rumpfes eine wichtige Rolle
66
. Das Drehen im Bett wird ausserdem komplexer durch eine
Bettdecke, reduzierter Levodopalevel während der Nacht und wenig visuellem Input/Unterstützung
53
.
4.3 Hand-/Armgebrauch S.38
Unimanuelle und oder bimanuelle Tätigkeiten können bei PMP beeinträchtigt sein und führen zu einer
reduzierten Lebensqualität
67,68
. Der Hand- und Armgebrauch, einschließlich des feinmotorischen
Handgebrauchs werden immer schwieriger. Häufig sind Flüssigkeit, Koordination, Effizienz und
Geschwindigkeit beim Greifen sowie die Geschicklichkeit der Bewegungen verringert. Das Timing und
die Integration von Bewegungskomponenten können eine Rolle spielen, ebenso wie die beeinträchtigte
Regulierung der erforderlichen Kraft und ein beeinträchtigter Präzisionsgriff. Ein Ruhe-Tremor der
Hand kann eine Tätigkeit negativ beeinflussen, wenn z.B. ein Gegenstand für längere Zeit gehalten wird.
Bei bestimmtem PMP zeigt sich ein Aktionstremor, welcher die Willkürbewegung beeinträchtigt.
Während einer Doppelaufgabe kann sich eine zusätzlich kognitive Aufgabe negativ auswirken auf die
Handschrift
69
.
4.4 Gehen S. 39-40
Beeinträchtigungen beim Gehen erscheinen bereits in den frühen Krankheitsphasen. 2 Typen können
unterschieden werden: die ‚konstanten‘ und die ‚episodischen‘Gangschwierigkeiten
70
.
4.4.1 Konstante Gangschwierigkeiten
Häufige konstante Beeinträchtigungen des Gangbildes bei PMP sind ein asymmetrischer Gang,
reduziertes Armpendel, Flexionshaltung, reduzierte und variable Schrittlänge sowie Schwierigkeiten
beim Drehen (im Stand, v.a. beim bradykinetisch-rigiden Typ). Im fortschreitenden Krankheitsverlauf
wird das Gehen langsamer und das Gangbild zeigt das parkinsontypische „Schlurfen“ mit kurzen
Schritten, bilateral reduziertem Armpendel und langsamen ‚en bloc‘ Drehungen. Die Reduktion der
Schrittlänge wird noch deutlicher, wenn eine kognitive Aufgabe dazu kommt (Dual Tasking)
71
oder
beim Gehen im Dunkeln
72
. PMP gehen durchschnittlich langsamer als gleichaltrige Gesunde (0.88 m/s)
wobei PMP in H&Y 3 bis 4 wiederum 24% langsamer sind als PMP bei H&Y 1
73
und es eine weitere
Reduktion gibt beim Gehen im Dunkeln
72
. Das ist viel langsamer als der internationale Standard für
sicheres Strassenüberqueren (0.94- 1.2 m/s)
74
. Weiter steht eine selbstgewählte Gehgeschwindigkeit
unterhalb 0.98 m/s bis 1.1 m/s für ein deutlich erhöhtes Sturzrisiko
75
. Vor allem die reduzierte
Gehgeschwindigkeit korrelliert mit Einschränkungen in den ADL
76
und ist ein unabhängiger
Risikofaktor für Mortalität
77
.
4.4.2 Episodische Gangschwierigkeiten: Freezing Of Gait (FOG)
Zusätzlich zu den oben erwähnten Gehbeeinträchtigungen können PMP episodisch auftretende
Beeinträchtigungen wie Festination und Freezing zeigen. Dabei sind PMP plötzlich nicht mehr in der
6
Lage, effektive Schrittbewegungen auszulösen
3
. Bei der Festination verlagert sich der
Körperschwerpunkt unwillkürlich vor beide Füsse (oder die Unterstützungsfläche). Dies führt wiederum
zu schnellen, unwillkürlichen kleinen Schritten und einem erhöhten Sturzrisiko. Bei PMP führt häufig
ein Ausfallschritt nach vorne zu einer Propulsionstendenz und ein Ausfallschritt nach hinten zu einer
Retropulsionstendenz. Während Freezing Episoden haben PMP oft das Gefühl, dass ihre Füssen „am
Boden fest kleben“
78
. Meistens präsentiert sich Freezing eher als ein schlurfendes kleinschrittiges
Gangbild oder ein Zittern der Beine auf der Stelle als in einer kompletten Akinesie
79
. In einer Kohorte
von PMP berichteten ungefähr die Hälfte über Freezing-Episoden
80
. Freezing ist assoziiert mit einer
Beeinträchtigung der ADL. Von allen PMP berichten bis zu 60% über regelmässige Freezing-Episoden.
Bei einer Krankheitsdauer länger als 8 Jahre wird Freezing sogar in 80% der PMP beschrieben
81
. Selbst
wenn die Prävalenz von Freezing mit der Krankheitsdauer und Progredienz steigt, kommt es auch in
früheren Krankheitsstadien vor, sogar bei PMP ohne Medikation
4
. Freezing tritt häufig auf beim
Loslaufen (verzögertes Starten), beim Drehen, beim Gehen durch engere Stellen (z.B. durch die Tür
gehen) oder sich ändernden Raumverhältnissen (z.B. sich einem offenen Raum oder einem Ziel nähern),
während des Dual Tasking (z.B. Gespräch führen während des Gehens) oder beim Gehen im
Dunkeln
5,82,83
.
Die meisten „Freezing-Episoden“ sind mit einer Zeitspanne von weniger als 10 Sekunden eher kurz
5
. In
den späteren Krankheitsstadien kann die Zeitspanne Minuten dauern. Es tritt meistens in der „Off-
Phase“ auf, wenn die Wirkung der Medikamente abnimmt („Off Freezing“) und verbessert sich wieder
nach der Einnahme von dopaminergen Medikamenten. Es kommt aber auch vor, dass Freezing in „On-
Phasen“ („On Freezing“) als eine mögliche Nebenwirkung der dopaminergen Medikamente auftritt. Das
Freezing wird zusätzlich durch Emotionen, Stress oder enge räumliche Verhältnisse negativ beeinflusst
oder sogar provoziert.
4.5 Gleichgewicht und Stürze S. 38-39
Stürze sind sehr häufig bei PMP. In prospektiven Assessments kam heraus, dass die Anzahl Stürze
zwischen 38% und 54% über 3 Monate variierte
84
, bis 68% über 12 Monate
85
und bis zu 87% über 20
Monate
43
.
In der Regel entstehen die ersten Defizite bezüglich des Gleichgewichtes (Halten und Verändern von
Körperhaltungen) 5 Jahre nach Auftreten der ersten Symptome, meistens durch progressive, reduzierte
posturale Reflexe. Defizite in der Propriozeption, der Beweglichkeit der Wirbelsäule und
Veränderungen der Levodopamedikamente können das Gleichgewicht weiterhin negativ beeinflussen
86
.
Bis jetzt wurde angenommen, dass Stürze im Durchschnitt nach 5 Jahren auftreten
87
. Vor Kurzem wurde
aber deutlich, dass PMP bereits in den frühen Krankheitsjahren ein erhöhtes Sturzrisiko haben
88,89
. Ein
reduziertes Sturzrisiko in den späten Phasen wiederum lässt sich durch eine passivere Lebensweise oder
durch die Immobilität erklären
84
. Stürze zeigen sich vor allem bei den PMP, bei denen sich
Gehschwierigkeiten als Erstsymptome zeigten
79
.
4.5.1 Folge von Stürzen
Stürze verursachen physische, soziale and finanzielle Belastungen während der Krankheit. Nicht
weniger als 65% der Stürze führen in einem von drei Fällen zu Hüft- und Beckenverletzungen
90
. PMP
haben eine zwei- bis vierfache Wahrscheinlichkeit Hüftfrakturen zu erleiden
91,92
. Im Vergleich mit ihren
Altersgenossen liegen PMP mit einer Hüftfraktur länger im Krankenhaus und haben eine längere und
weniger erfolgreiche Rehabilitation
93,94
. Dies ist eine Erklärung für Stürze als Hauptursache von
Pflegebedürftigkeit.
4.5.2 Assoziierte Faktoren
Die Faktoren, die mit Stürzen in Verbindung gebracht werden, sind teilweise krankheitsspezifisch, z.B.
FOG, reduzierte Schritthöhe, Bradykinesie und eingeschränkte posturale Reflexe
85,95–97
. Weitere
Faktoren können z.B. Nebenwirkungen von sedativen Medikamenten, täglicher Alkoholkonsum und
Urininkontinenz sein
95,97,98
. Welche Rolle die Flexionshaltung spielt ist unklar. Einerseits könnte die
Haltung Ausfallschritte beeinträchtigen, die das Gleichgewicht halten, anderseits könnte es eine
natürliche, vorbeugende Antwort sein um Stürze nach hinten zu verhindern
99
. PMP, die aktiv versuchen,
ihre Haltung zu korrigieren, können als Folge instabiler werden
100
.
7
PMP, die schon gestürzt sind, zeigen innerhalb der folgenden 3 Monaten eine erhöhte
Wahrscheinlichkeit, erneut zu stürzen
95
. Dies ist möglicherweise durch eine erhöhte Sturzangst zu
erklären. PMP, die keine Sturzgeschichte haben, können Sturzangst entwickeln
57
. Die Sturzangst könnte
zu ADL Einschränkungen führen, die wiederum ein Risikofaktor ist für zukünftige Stürze
101–103
.
Mobilitätseinschränkungen, die assoziiert werden mit erhöhter Sturzangst, sind Aufstehen von einem
Stuhl, Schwierigkeiten beim Drehen, Startschwierigkeiten (Hesitation), Festination, Verlust des
Gleichgewichtes und „schlurfende“ Schritte
104
. Auch reduziertes Selbstvertrauen für das Gleichgewicht
könnte das Sturzrisiko erhöhen
105
. Die meisten Stürze bei PMP ereignen sich im Raum beim Drehen,
beim Aufstehen, beim Bücken nach vorne oder bei Dual tasking
96
.
4.5.3 Dual Tasks
Dual- und Multitasking können zu Stürzen beitragen, weil es zu einer Kombination von reduzierter
psychomotorischer Geschwindigkeit und Aufmerksamkeitsflexibilität kommt
106
. Dieses Problem
verstärkt sich, wenn die Dual Tasks aus einer motorischen und einer mentalen Aufgabe bestehen (z.B.
Reden während des Gehens). Wenn Gehaufgaben komplexer werden, opfern ältere Menschen die
Leistung der mentalen Aufgabe (z.B. eine Frage beantworten) dem Ziel, ihren Gang und ihre Balance
zu optimieren. Diese Strategie wird die „Haltung erst“-Strategie genannt. Dennoch zeigen PMP eine
erhöhte Fehlerquote, sowohl in der mentalen als auch der motorischen Aufgabe
107
. Die Erklärungen
dafür liegen in den Defiziten der Aufmerksamkeit
108
, einer reduzierten Aufmerksamkeitsflexibilität und
in einer Einschränkung in der Priorisierung der Aufgaben
107
. Dem zu Folge kann Multitasking bei PMP
zu FOG oder Gleichgewichtsverlust während des Gehens
70,109
führen. Selbst die Aufforderung, während
des Trainings dem Physiotherapeuten zuzuhören, ist ein Beispiel für Dual Tasking und kann zum
Freezing beim Gehen oder zu einem Gleichgewichtsverlust führen, wenn PMP mit exekutiver
Dysfunktion beim Gehen beide Aufgaben bewältigen möchten
70,109
.
4.6 Schmerzen S.40-41
Schmerz ist bei PMP ein ernst zu nehmendes, oft belastendes Symptom und wird häufig unterbewertet
oder inadäquat behandelt. Die Neurophysiologie von Schmerzwahrnehmung ist immer noch weitgehend
unklar. Dopamin scheint die Schmerzwahrnehmung zu modulieren, indem es die Schmerzschwelle
erhöht
110
. Dopamin spielt eine Rolle bei der Beurteilung von Schmerz und den damit verbundenen
emotionalen Erfahrungen, die von Individuum zu Individuum sehr stark variieren können
111
. Verringerte
Dopaminlevel können dazu führen, dass Schmerzsignale und Reaktionen auf wahrgenommene Gefahr
nicht mehr adäquat verarbeitet werden. Die Schmerzwahrnehmung kann entweder erhöht oder
verringert sein, unabhängig von kognitiven Beeinträchtigungen
112
. Schmerzen bei PMP sind mit Alter
(weniger Schmerzen in höherem Alter), Geschlecht (Frauen haben mehr Schmerzen), Krankheitsdauer
und -schwere, Schwere der Depressionen, systemischer Komorbidität wie Diabetes, Osteoporose und
rheumatoider Arthritis verbunden
32
.
Für klinische Zwecke kann der Schmerz basierend auf der klinischen Beschreibung in primäre und
sekundäre Schmerzen eingeteilt werden. Muskuloskeletaler Schmerz ist bei PMP am häufigsten. Die
medikamentöse Behandlung von Schmerzen kann sowohl mit parkinsonspezifischen als auch mit
allgemeinen Medikamenten erfolgen. Die Dystonie kann allenfalls auch mittels Botulinum Toxin
Injektionen gelindert werden
119
.
4.7 Respiratorische Schwierigkeiten S. 42
PMP erleben respiratorische Beeinträchtigungen auf Grund der Krankheitspathologie und
medikamentöser Nebenwirkungen
114–116
. Pneumonie ist die häufigste Todesursache bei PMP, meistens
in H&Y 5
41–43
. Mögliche Ursachen der respiratorischen Beeinträchtigungen beinhalten:
• Dysphagie
117
• Schwäche der Atemmuskulatur und eingeschränkter Hustenstoss
118
• Reduzierte körperliche Leistungsfähigkeit, resultierend in verminderter Ausdauer, tiefem
Fitnessniveau und reduzierter pulmonaler Funktion
119
Ein intakter Hustenmechanismus ist wichtig, um die Atemwege zu befreien
120,121
. Die Schwäche der
inspirations-, expirations- und bulbären Muskulatur kann zu einem reduzierten Hustenstoss führen
122
.
Ein reduzierter Hustenstoss führt zu einem ineffizienten Freimachen der Luftwege, was die Entwicklung
8
von respiratorischem Versagen und den Tod begünstigen kann. Therapeuten sind sich der Bedeutung
der Auswirkung von motorischen Beeinträchtigungen auf die Mobilität bewusst. Nebst der Behandlung
dieser sind aber gerade in späteren Stadien auch die respiratorischen Probleme von Bedeutung.
Daher sind rechtzeitige therapeutische Interventionen zur Verbesserung der Lebensqualität und zur
Sicherstellung des Überlebens dieser PMP notwendig.
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