phen. Schon damals ließ Mitleid die Kasse klingeln Während auf dem Marktplatz das Treiben in vollem Gange ist, stellt sich ein seltsam geklei-
deter Mann auf eine kleine Bank und zeigt [...] auf ein Schaubild, das er hinter sich aufgestellt
hat. Darauf sind fünf traurig blickende, in Lumpen gekleidete Menschen zu sehen. [...]
Wer jetzt nicht stehenblieb, um die ungeheuerliche Geschichte in aller Ausführlichkeit zu
hören, dem konnte auch nicht geholfen werden. Furchtbares hatte sich da zugetragen, ein
schreckliches Ereignis, man stelle sich das vor! Der Bänkelsänger erhebt wiederum die Stim-
me und trägt das ganze Lied in mehreren Versen vor. Dabei greift er zu einer Drehorgel und
begleitet seinen Sing-Sang mit einer eintönigen Melodie. Trauer, Schmerz, Furcht, Grausen:
Der Bänkelsänger weiß, wie er dem Volk die Gefühle zu entlocken hat. [...] Ist die Geschichte
vorgetragen, so läuft der Spielmann mit einem Hut herum und sammelt Geld ein. Er bietet
auch kleine Heftchen zum Kauf an, meist mit drei Liedtexten, zum Teil mit Illustrationen.
Die erste schriftliche Erwähnung eines Bänkelsängers stammt aus dem Jahr 1709, aber es wird
ihn in dieser Form schon vorher gegeben haben, als Nachfolger der Spielmänner und Reim-
sprecher des Mittelalters. Zunächst waren die Bänkelsänger invalide Soldaten und Landstrei-
cher, die herumgekommen waren und von Ereignissen aus anderen Gegenden in Liedform
berichteten. Später war der Bänkelsänger ein richtiger Beruf, oft als Paar – Mann und Frau
– oder häufig sogar als Familie ausgeübt. [...] Ein Affe gehörte häufig mit zur Ausstattung, die
Kleidung war meist ausgefallen und hob sich optisch immer von der des Volkes ab. Entweder
trug der Bänkelsänger einen Frack, Handschuhe und einen Dreispitz, um autoritär zu wirken,
oder aber er wählte lumpige Kleidung, um Mitleid zu erregen. Als Fahrender, am Rande der
Gesellschaft Lebender konnte er so bezeugen, dass das Lied vom Leid, das er besang, auch zum
Teil sein eigenes sei. Inspiriert wurden die Bänkelsänger von Zeitungsblättern, die seit Ende
des 15. Jahrhunderts zirkulierten, religiösen Gesängen und moralischen Geschichten, die sie
auf ihren Reisen aufschnappten und weiterdichteten. Sie verwendeten dabei eine schwülsti-
ge Sprache, in die immer wieder Ausdrücke wie „Ach, oh weh“ eingeflochten wurden, sowie
die üblichen verdächtigen Adjektive: „schauerlich, fürchterlich, tragisch“. Die Lieder handelten
oft von Verbrechen, Morden und Räuberbanden. Es konnten aber auch politische Ereignisse
wie die Hinrichtung König Ludwig XVI. in Frankreich besungen werden oder eine Seeschlacht
vor Helgoland. Es gab Texte von Katastrophen, von schreck lichen Bränden oder Überschwem-
mungen, in denen die Zuhörer vom Leid anderer erfuhren und aufatmen konnten, dass sie
verschont geblieben waren, sei es aus Gottesfurcht oder aus Tugendhaftigkeit. [...]
Aus den Bänkelgesängen entwickelten sich später die Moritatenlieder und Balladen, [...]
Bis um 1920 fand man innerhalb Deutschlands die Bänkelsänger. Die letzten ihrer Art benutz-
ten nicht mehr Schautafeln mit gemalten Bildern, sondern ausgeschnittene
Zeitungsfotos, die weitaus realistischer waren. Dann traten die bunten Illustrierten ihren Sieges-
zug an – und der Beruf starb aus.
Quelle: www.tagesspiegel.de/wirtschaft/untergegangene-berufe-der-baenkelsaenger/v_print/1580952.html?p=