Bürger als Wirtschaftssubjekte scheint relativ unin-teressant zu
sein.
Ungeklärt ist zunächst die Wahrnehmung und die Informations-
verarbeitung der jeweiligen Wirtschaftssubjekte im Zusammen-
hang mit ihrer Versorgungs- und Vorsorgesituation.
• Dies gilt sowohl ex ante, also in der Einkommenserwerbszeit (nicht
notwendigerweise Arbeitseinkommen), als auch
• ex interim, d.h., in der Phase der Entscheidung, das Erwerbsleben
zu beenden, und
• ex post, also in der Nutzungszeit der Vorsorge.
Aus allgemeinen psychologischen und inzwischen auch wirtschafts-
psychologischen Ergebnissen ist z.B. gut bekannt, dass in der jewei-
ligen Phase im life cycle die Entscheidungen u.a. stark von der
Darstellung und Wahrnehmung der Situation beeinflusst werden
(framing) und von der Selektion sowie vom Verstehen der jeweili-
gen Informationen abhängen (competence).
Jede Erörterung einer Systemveränderung bedarf dringend einer in-
dividualökonomischen Begleitung hinsichtlich einer geeigneten Im-
plementierung und Umsetzung.
Darüber hinaus wird gerade erst ansatzweise begonnen, den (per-
manenten) Entscheidungsprozess in der Ex-ante-Phase danach zu
analysieren, inwieweit die grundsätzlich fruchtbare Bildung diversi-
fizierter Vorsorge-Portfolios auf der Ebene der einzelnen Wirt-
schaftssubjekte stattfindet und überhaupt stattfinden kann.
Hier handelt es sich nicht nur um ein Problem ökonomischer Bildung
und Informationswahrnehmung oder -verarbeitung, sondern viel-
mehr auch darum, ob es einzelnen Personen oder Haushalten über-
haupt möglich ist, Produkte von Finanzintermediären/-märkten zu
erhalten, die ihrer Risikoposition entsprechen (eigentlich besser:
Ambiguitätssituation).
Zu untersuchen ist, welche Wahrnehmungs- und Verarbei-
tungsprozesse auf welcher ökonomischen Bildungsbasis stattfin-
den und welchen Einfluss bekannte Faktoren wie das framing oder
die asymmetrische Handhabung wahrgenommener Gewinne und
Verluste bzw. zukünftiger Chancen und Gefahren haben. Abwehr-,
Verdrängungs- oder Reaktanzverhalten sollte frühzeitig er-
kennbar und gegenzusteuern sein, wenn eine entsprechende Betei-
ligung an einem Zukunftssystem der Altersvorsorge und
Alterssicherung erreicht werden soll.
II Zum Zusammenhang zwischen individuellen und systemi-
schen Problemen des Ageing aus verhaltensökonomischer
Sicht
Die neoklassische Modellwelt unterstellt Wirtschaftssubjekte, die
zukunftsorientiert in dem Sinne handeln, dass sie ihre Ressourcen
Forschungsbericht der Otto-Friedrich-Universität Bamberg
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(inkl. Humankapital) über ihre gesamte (erwartete) Lebenszeit ra-
tional im Sinne der Erwartungsnutzentheorie einsetzen, entspre-
chend sensitiv auf Veränderungen der Umfeldbedingungen
reagieren und alle verfügbaren relevanten Informationen verarbei-
ten (maximization of expected lifetime utility; traditional life-cycle
model; vgl. den kurzen Überblick in Oehler 1995, insbes. S. 80 ff.).
Trotz diverser Erweiterungen dieses Ansatzes besteht inzwischen
erhebliche empirische Evidenz, dass zumindest der deskriptive An-
spruch dieser Modelle verletzt ist.
Verabschiedet man sich von der Vorstellung beliebig vieler Klone
des homo oeconomicus, so weitet sich der Blick auf einige zentrale
Aspekte des beschränkt rationalen Verhaltens von Wirtschaftssub-
jekten im Themenfokus.
(1) Behavioral life-cycle:
Im Konflikt jedes Wirtschaftssubjektes („zwei Seelen in seiner/ih-
rer Brust"), einerseits das gegenwärtige und zukünftige Einkommen
bzw. Vermögen grundsätzlich zeitnah konsumieren zu wollen und
andererseits zu wissen, dass sich dies gegen die eigenen mittel- bis
langfristigen Interessen (Vorsorge, Vorsicht) richtet, erhält die
Selbstkontrolle bzw. Selbstdisziplin zentralen Stellenwert.
Ob man sich dieser Thematik institutionenökonomisch als Konflikt
zweier Agenten, dem „myopic doer" und dem „farsighted planner"
(vgl. für viele z.B. Shefrin/Statman 1988), oder verhaltenswissen-
schaftlich in Form emotional-motivationaler Prozesse in der Zeit nä-
hert, fördert zunächst keine wesentlichen Unterschiede im
offenbarten Verhalten zu Tage, ggf. aber in seiner Erklärung und
Steuer-/Beeinflussbarkeit: Zeitinkonsistente Präferenzen und
Entscheidungen.
Typischerweise werden zur Bewältigung solcher Entscheidungssi-
tuationen, in denen die First-best-Lösung nicht erreicht werden
kann, Heuristiken und verwandte vereinfachende Entscheidungs-
regeln auf der Basis vereinfachender und verkürzender Wahrneh-
mungsprozesse verwendet.
So versuchen Wirtschaftssubjekte eine Selbstkontrolle dadurch her-
beizuführen, indem sie ihr heutiges und zukünftiges Einkommen
bzw. Vermögen in getrennten mentalen Konten sortieren, die nicht
perfekte Substitute sind. Die Zuordnung/Buchung zu solchen Kon-
ten hängt u.a. von der Einkommens- bzw. Vermögensart und -höhe
sowie von der Häufigkeit/Regelmäßigkeit der Zahlungsströme ab.
Selbstdisziplinierung wird dann z.B. durch eine Verlagerung/Verzö-
gerung von Einkommensbestandteilen versucht, um die Konsum-
ausgaben zu kontrollieren, oder dadurch, dass Gewinne/Zuwächse
bei bestimmten Konten (Immobilien, Renten-/Versicherungskonto)
allein dem zukünftigen Konsum vorbehalten bleiben. Entgegen der
neoklassischen Annahmen sind damit einige assets (zeitweise) nicht
fungibel.
Eine besondere Rolle spielen auch Einmalzahlungen im Vergleich zu
einer Verrechnung dieser in den monatlichen Zahlungen (erstere
mit höherem Konsumverzicht zugunsten des Sparens >>> Sonder-
zahlung).
(2) Retirement-consumption puzzle:
Forschungsbericht der Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Seite 726
Eng mit dem ersten Sachverhalt verwandt ist das Phänomen, dass
mit dem Eintritt in den Ruhestand das Konsumniveau deutlich fällt
bzw. wahrgenommen wird, es müsse fallen. Hier spielen sowohl der
„Kampf" um zeitkonsistente Präferenzen eine Rolle als auch die so-
genannte hyperbolische Diskontierung, d.h. das Phänomen, dass
die Gegenwart stark überbewertet (overvalue) und gleichzeitig die
Zukunft zu stark diskontiert (overdiscount) wird.
Daneben spielen für (1) und (2) Probleme der inertia und von de-
faults eine Rolle.
(3) Behavioral portfolio-formation:
Zahlreiche empirische Befunde zeigen, dass individuelle Wirt-
schaftssubjekte nur sehr begrenzt in der Lage sind, ein Gesamtver-
mögensportfolio nach den Vorstellungen der Neoklassik zu bilden
(risk-return tradeoff).
Vielmehr treten drei Problemlagen auf, von denen zumindest die er-
sten beiden auf beschränkt rationales Verhalten zurückgeführt wer-
den können, letztere eher auf unvollkommene und unvollständige
Finanzmärkte bzw. Informationen.
• Hinsichtlich der Risikokomponente besteht sowohl die grundsätz-
liche Gefahr, Risiken zu unterschätzen als auch das spezifische Pro-
blem, gegenwärtige Risiken überzubewerten und zukünftige Risiken
zu vernachlässigen. Darüber hinaus bleibt die Frage nach einem (?)
geeigneten Risikomaß und einer (?) konsistenten (?) Risikoeinstel-
lung offen.Bezüglich der Performance- oder Renditekomponente
bestehen ähnliche Probleme, insbesondere auch, alle relevanten
Vermögensarten zu berücksich-tigen (auch: Humankapital).
• Zusätzlich besteht das Problem von realen Entscheidern, die Korre-
lationen zwischen Alternativen bzw. Risiken verstehen und verwen-
den zu können, um Diversifikationseffekte erzielen, die über denen
einer naiven Diversifikation liegen.
• Unabhängig davon ist das Portfolio intertemporal aufzustellen und
entlang der Diversifikation über alle Vermögensarten in Abhängig-
keit von der Entscheidungssituation und der gewählten Risikodefini-
tion zu optimieren. Zum Beispiel werden landläufige Strategien wie
die Empfehlung, bei Eintritt in das Erwerbsleben bzw. bei langem An-
lagehorizont einen möglichst hohen An-teil an Aktien oder vergleich-
baren risikoreicheren Anlageformen zu wählen, unter
Vorsorgegesichtspunkten durchaus zweifelhaft, wenn man mit ei-
nem Risikokonzept wie den Shortfallmaßen arbeitet: Zwar wird die
Wahrscheinlichkeit eines Shortfalls mit zunehmendem Zeithorizont
immer geringer; tritt der Fall aber ein, so kann es zur substantiellen
Unterschreitung der Vorsorge-Benchmark kommen, die mit zuneh-
mendem Zeithorizont auch nicht kleiner, sondern eher größer wird.
Auf Systemebene können diese nur scheinbar idiosynkratischen
Aspekte erhebliche Auswirkungen haben.
Inzwischen scheint sich schon aufgrund der Einsicht in die „drohen-
de" Zeitachse des Ageing-Prozesses der Grundkonsens gebildet,
dass das unfunded oder Pay-as-you-go Pension System in seinen
Grundzügen zu erhalten ist (s.o.). Nicht substitutiv sondern komple-
mentär wird ein funded system für erforderlich gehalten, ob nun je
einzeln oder in Kombination betrieblicher oder direkter privater Vor-
sorge.
Forschungsbericht der Otto-Friedrich-Universität Bamberg
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In diesem Zusammenhang erlangt die eben angesprochene Potfolio-
Problematik besonderes Gewicht, da ja nun die Finanzmärkte und
insbesondere die Aktienmärkte eine besondere Rolle für diese er-
gänzenden kapitalgedeckten Sicherungssysteme spielen sollen (di-
rekt oder indirekt, z.B. via Versicherungen und Fonds).
Systemseitig wird die Gefahr des sogenannten „meltdowns" ge-
sehen, wenn eine hohe Liquidation von Anlagen zugunsten des Kon-
sums im Alter bei den Baby-boomer-Jahrgängen zu geringen
Realisationen führt. Neuere Untersuchungen deuten jedoch an, dass
zumindest für Aktien- und Rentenmärkte der Effekt eher bescheiden
ausfallen dürfte, da einerseits ein abruptes und/oder komplettes
Entsparen analog neoklassischer Überlegungen nicht zu erwarten ist
(kontra-neoklassisch sogar gleich bleibende oder steigende Spar-
quoten im Alter) und andererseits ein wachsender Ar-beitskräfte-
mangel zu kapitalintensiveren Wirtschaftsprozessen führen könnte.
Zugleich werden Ausgleichseffekte via Globalisierung/nicht-syn-
chrone Entwicklungen in anderen Regionen und durch „nachwach-
sende" Vorsorger erwartet.
Beschränkt rationale Wirtschaftssubjekte erlauben also eine teilwei-
se Kapitaldeckung, das Problem von langfristigen Aktieninvest-
ments (s.o.) bleibt aber. Für Immobilien zur Altersvorsorge wird die
Problematik des Wertrückgangs allerdings schwieriger eingeschätzt.
Aus System-_bzw._Anbietersicht'>System- bzw. Anbietersicht ist darüber hinaus auf das
Selbstkontroll- bzw. Selbstdisziplin-Problem der Wirtschafts-
subjekte deutlich Rücksicht zu nehmen. Neben der Beachtung des
grundsätzlichen crowding-out-Problems von private savings durch
PAYG-Systeme sind Produkte und Systemarrangements zu forcie-
ren, die ein (hohes) pre-commitment verlangen („Riester"-Produkte
deuten zwar in diese Richtung, allerdings ist das framing absto-
ßend).
Darüber hinaus ist jenseits neoklassischer Vorstellungen davon aus-
zugehen, dass staatliche Förderungsanstrengungen und System-
gestaltungen deutlich lenkende Wirkungen haben, z.B.
hinsichtlich des Ausmaßes der Zahlungen zur Vorsorge genauso wie
bezüglich der zu übernehmenden Risiken. Hier können konkretere
Vorga-ben im Sinne eines „paternalistic libertarianism" (Thaler/
Sunstein 2003) den Blick des einzelnen Wirtschaftssubjektes für die
Handlungsalternativen schärfen.
Ferner ist die bildungspolitische Komponente in diesem Zusam-
menhang nicht zu unterschätzen. Zunächst tragen geeignete Kom-
munikations- und Lernmechanismen dazu bei, die Einschät-
zungsprobleme und Zeitinkonsistenzen zu reduzieren (s.o.). Aber
umgekehrt ist auch ein Bewusstseins- und Verhaltenswandel
zu initiieren, der Lernprozesse um die Aspekte der Eigenvorsorge
erst zulässt.
In diesem Kontext der Diskussion um ein System der Altersvorsorge
und Alterssicherung aus einer umlagefinanzierten Grundversorgung
(„erarbeitet und verdient") und einer kapitalgedeckten Zusatzver-
sorgung („erspart und bezahlt") wird gerne die zentrale dritte Kom-
ponente unberücksichtigt gelassen, die soziale Versorgung
(„erlebt und gelebt").
Forschungsbericht der Otto-Friedrich-Universität Bamberg
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Die Wohlfahrt der im Alterungsprozess befindlichen Menschen wird
neben einkommens- und vermögensmäßigen Aspekten als Determi-
nanten („reichere" Individuen leben länger und länger gesund,
aber: Kausalitätsproblem) entscheidend durch das familiäre und so-
ziale Netzwerk beeinflusst. Funktionierende oder vielleicht besser
„gesündere" Netzwerke (Familie, Freunde, Bekannte) führen zu län-
ger anhaltender Gesundheit für Ältere und entlasten die beiden er-
sten System-Komponenten. Die soziale Versorgung kann im
ökonomischen Sinne als Ressource verstanden werden.
III Methodik (erste Ansätze)
Surveys zu den spezifischen Problemfeldern (individual) und teils
Vergleiche zu vorhandenen Datenbasen.
Sensibilisierungsstrategien hinsichtlich Risiko und Performance.
Portfoliomodelle nach Typen/Situationen und Kommunikationsstra-
tegien (design).
Portfolioauswertungen soweit Datenzugang.
Anlegerschutz in einem markt- und intermediärbasierten Finanzsystem - Leitlini-
en zu einer ganzheitlichen Konzeption
Projektleitung:
Prof. Dr. Andreas Oehler
Beginn: 1.1.2003
Förderer:
Lehrstuhl für Finanzwirt-
schaft
Die praxisorientierte und politikfokussierte Diskussion des Anleger-
schutzes und des Schutzes der Funktionsfähigkeit von Marktmecha-
nismen in den Industrieländern wird vorrangig von der Relevanz des
pathologischen Falles bestimmt und weniger von einer ganzheitli-
chen Konzeption getragen1. Eine Anfälligkeit für gesellschaftliche
Strömun-gen und Lobbyismus ist daher genauso evident wie eine
Verlagerung der Regelungsverantwortung auf die Judikative. Die
Beurteilung einer Übersteuerung oder Untersteuerung und damit
von Maßnahmen der Deregulierung bzw. der Regulierung wird so
kaum möglich.
Vielleicht überrascht eine solche Entwicklung dann nicht, wenn - von
Ausnahmen abgesehen - jahrzehntelang seitens der Wirtschaftswis-
senschaften die Perspektive der neo-klassischen Modellwelt darge-
reicht wird, die gar keinen Regelungsbedarf kennt und damit die
Praxisprobleme vernachlässigt. Die neo-klassische Modellwelt un-
terstellt Wirtschaftssubjekte, die zukunftsorientiert in dem Sinne
handeln, dass sie ihre Ressourcen (inkl. Humankapital) über ihre
gesamte (erwartete) Lebenszeit rational im Sinne der Erwartungs-
nutzentheorie einsetzen, entsprechend sensitiv auf Veränderungen
der Umfeldbedingungen reagieren und alle verfügbaren relevanten
Informationen verarbeiten.
Ein Finanzsystem in einer Volkswirtschaft und jedes Unternehmen
in ihr versteht man dann - in der gebotenen Kürze - als ein Geflecht
vollständiger Verträge mit Fremdfinanciers, Beschäftigten, Kunden,
Lieferanten und anderen Kontraktpartnern (z.B. auch dem Staat).
Nur die Kontrakte mit den Eigenfinanciers gelten als offen oder un-
endlich, das heißt, die Shareholder (hier im unverbrauchten Sinne:
die Eigentümer eines Anteils = Anteilseigner) haben einen Anspruch
auf den residualen Zahlungsstrom nach Ausschüttung bzw. Auszah-
lung gemäß der vertraglichen Verpflichtungen. Die sogenannten
und inzwischen eingedeutschten „agency problems" (s.u.) existie-
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ren annahmegemäß nicht, weswegen die Maximierung der „residual
returns", das heißt hier auch des (residualen) Shareholder Value,
mit der (gesamtwirtschaftlichen) Allokationseffizienz gleichbedeu-
tend ist. Aus dieser Sicht haben dann auch alle (institutionellen) Re-
geln der „corporate governance and control", soweit sie überhaupt
Modellgegenstand sein müssen, ausschließlich die Interessen der
Eigenfinanciers zu schützen und zu fördern.
Die Annahmen der neo-klassischen Modellwelt wie das Rationali-
tätspostulat und die idealisierte Unsicherheit (alle haben faktisch
das gleiche „Wirtschaftsmodell" im Kopf) und die Prämisse des voll-
kommenen und vollständigen Kapitalmarktes im Gleichgewicht be-
deuten dann, dass Finanzierungsentscheidungen und mit ihnen
verbunden z.B. auch Finanzinstitutionen wie Banken und Versiche-
rungen, aber auch institutionelle Regelungen wie die Rechtsformen
der Unternehmen irrelevant sind. Es existieren demnach keinerlei
Reibungsverluste, d.h. z.B., dass die Beträge, die Anleger bei einer
Emission zahlen, dem Emittenten vollständig zufließen und umge-
kehrt, die späteren Zahlungen des Emittenten die Anleger unge-
schmälert erreichen.
Die Thematik des Anlegerschutzes spielt damit in der jahrzehnte-
lang die volkswirtschaftliche und finanzwirtschaftliche Theorie domi-
nierenden neo-klassischen Theorie praktisch keine Rolle. Aspekte
der Finanzintermediation oder anderer institutioneller Gegebenhei-
ten im Finanzsektor haben aufgrund des deutlich komplexitätsredu-
zierenden und idealisierenden Annahmengeflechtes und Ideen-
gerüstes keine wirkliche Existenzberechtigung. Wirtschaftssubjekte
werden eher als sich unter Umwelteinflüssen entwickelnde Klone
des Prototyps „homo oeconomicus", denn als eigenständig denken-
de und handelnde Individuen angesehen.
Kurz zusammengefasst kann man festhalten, dass neben (erhebli-
chen) Zweifeln am Realitätsgehalt der Annahmen sich gleichzeitig
eine deskriptive Relevanz solcher Institutionen aufgrund empiri-
scher Regelmäßigkeiten nicht leugnen lässt. In verwandtem Kontext
betont Schmidt (1983), dass der Idealfall, dass keine Reibungsver-
luste auftreten, natürlich nicht vorkommt, sondern stattdessen auf
verschiedene Kostenarten, insbes. Transaktionskosten zu achten
ist, auf die weiter unten noch einzugehen sein wird.
Die reale Finanzwelt und die neuere, einzelwirtschaftlich und infor-
mationsökonomisch orientierte Finanzierungstheorie kennt dagegen
zwei auch für den Anlegerschutz zentrale Problemfelder.
Es besteht regelmäßig KEINE Symmetrie in den Vertragsbeziehun-
gen (ex interim) und bei ihrer Anbahnung (ex ante) und Abwicklung
(ex post).
• Während bereits schon VOR Vertragsschluss die unter den bekann-
ten Begriffen „hidden information" oder Qualitätsunsicherheit beste-
henden Informationsasymmetrien wirken,
• erschweren WÄHREND der Kontraktlaufzeit (zusätzlich) Gestal-
tungsasymmetrien die Zusammenarbeit der Vertragspartner. Mo-
ral Hazard und Hold Up sind die Folgen, wobei die letztgenannte
Verhaltensweise auch in ex ante symmetrischen Informationsszena-
rien auftreten kann, wenn unvollständige Verträge unterstellt wer-
den.
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• Schließlich bereiten NACH Vertragsende oder -abbruch Betroffen-
heitsasymmetrien Probleme, die zusätzlich mit mangelnder Kon-
trolle oder Verifizierbarkeit verknüpft sein können.
Standardmäßig werden zur Reduzierung der Asymmetrien und ihrer
Konsequenzen in den drei genannten Kategorien Signalling und/
oder Screening, anreizkompatible Verträge und präventive Maßnah-
men (im Falle von Fremdfinanzierungskontrakten: gläubigerschüt-
zende Maßnahmen) empfohlen (zur weiteren Erörterung vgl.
unten).
Verlässt man das „Reservat" der Klone eines „homo oeconomicus"
so weitet sich der Blick auf einige zentrale Aspekte des beschränkt
rationalen Verhaltens von Wirtschaftssubjekten im Themenfokus.
Entsprechend dem neueren Paradigma der Behavioral Economics &
Finance6 ist von einer Bounded rationality auszugehen. Dies bedeu-
tet jedoch nicht die einseitige und sehr stark kognitiv geprägte
Sicht, dass Wirtschaftssubjekte sich grundsätzlich fehlerhaft ent-
scheiden und verhalten. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass
eine Beurteilung kognitiver Strategien als rational oder irrational nur
dann sinnvoll möglich ist, wenn sie im Kontext des Umfelds (physi-
cal or social environment) stattfindet. Es existieren also zwei inein-
andergreifende und interagierende Komponenten:
• die internen Beschränkungen des (menschlichen) Geistes (internal
limitations of the mind) und
• die (Informations-) Struktur der externen Umweltbedingungen, in
der der Entscheider im weitesten Sinne arbeitet (structure of the
external environments).
Bounded rationality meint dann, (genügend) gute Entscheidun-
gen unter Nutzung der extern verfügbaren Informationsstruktur zu
treffen. Hierzu gehören entscheiderseitig also angepasste Metho-
den, um die meisten Aufgabenstellungen zu handhaben, insbeson-
dere
• Wiedererkennungs-, Erkenntnis- und Reflektionsprozesse, die eine
zukünftige Informationssuche verringern sowie
• Heuristiken, die diese Suche steuern und ihr Ende bestimmen und
• (einfache) Entscheidungsregeln, die die verfügbaren, gefundenen
Informationen nutzen.
Andererseits ist die Struktur der Mechanismen und Methoden an die
Struktur der Informationen im Umfeld anzupassen. Nur wenn die
Heuristiken an bestimmten Umfeldbedingungen orientiert sind, folgt
begrenzt rationales Handeln: Adaptive Entscheidungen kombinieren
Genauigkeit mit Geschwindigkeit und Einfachheit (search for little
information).
Beide Aspekte, die Asymmetrien in den Vertragsbeziehungen und
die begrenzte Rationalität der Wirtschaftssubjekte, sind im Rahmen
einer ganzheitlichen Konzeption des Anlegerschutzes systematisch
zu berücksichtigen.
Nach grundlegenden Begrifflichkeiten und Einordnungen werden auf
dieser Basis zentrale Ansatzpunkte eines Anlegerschutzes disku-
tiert, die sowohl die einzelnen Wirtschaftssubjekte als Akteure als
auch die Marktstrukturen und Verknüpfungen insgesamt berück-
sichtigen. Dabei werden die zentralen Anlegerrisiken gekennzeich-
net und die zugehörigen Regelungsansätze erörtert.
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